Montag, 18. Mai 2020

Die Leiter im Kirschbaum






Mitten aus meinem Vortrag:


Ich zeige Ihnen einen kleinen Film. So, Licht aus, Film ab. Sie sehen eine Leiter im Kirschbaum, 20 Sprossen. 10 Dreijährige kommen zur Leiter, mit ihren Müttern. Die Kinder fangen an, die Leiter hochzuklettern. Die Mütter reagieren unterschiedlich. Die eine holt ihr Kind bei Sprosse 3 von der Leiter, die andere bei Sprosse 5, die dritte lässt es bis nach oben klettern und die vierte nimmt die Leiter weg. Also unterschiedliche Reaktionen.

Nächste Szene: Derselbe Kirschbaum, dieselbe Leiter. Aber 10 andere Dreijährige, andere Mütter. Aber dieselben Reaktionen wie vorhin: die Mütter holen ihre Kinder von der Leiter bei Sprosse 3 oder 5, oder nicht, eine schleppt die Leiter weg.

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Die Müttergruppen sind unterschiedlich: die einen fühlen sich für ihre Kinder verantwortlich, haben also ein Verantwortungsgefühl – die andern nicht. Frage an Sie: Welche Müttergruppe hat ein Verantwortungsgefühl, die erste oder die zweite? Das können Sie nicht erkennen, denn die Handlungen sind dieselben. Sie können es erst erkennen, wenn Sie diese besondere Brille aufsetzen, die ich Ihnen jetzt gebe. Und ich Ihnen die beiden Filme noch einmal zeige.

Brille auf, Film ab. Sehen Sie jetzt bei der ersten Müttergruppe einmal zu den Herzen der Mütter. Sie erkennen mit Hilfe der Brille, dass Strahlen aus den Herzen herauskommen. Viele. Rote, blaue, grüne, gelbe, alle möglichen. Das sind Gefühle, die mit Hilfe Ihrer psychologischen Erkenntnisbrille sichtbar werden. Um besser sehen zu können, halten wir den Film jetzt an und machen ein Standbild. Schauen Sie zu den roten Strahlen. Rote Strahlen sind Ausdruck der Liebe der Mütter zu ihren Kindern. Vergleichen sie die Mütter. Die Mütter lieben ihre Kinder unterschiedlich stark. Wir können nachmessen. Die eine Mutter liebt ihr Kind 45 Zentimeter, die andere 3 Meter achtzig, die dritte 15 Meter und so weiter.

Jetzt schauen sie nach den grüngelben Strahlen. Im Handbuch für Gefühle können Sie nachlesen: Grüngelb seht für das Verantwortungsgefühl. Sie erkennen, dass die Mütter sich unterschiedlich stark für ihre Kinder verantwortlich fühlen. Die eine Mutter 1 Meter zwanzig, die andere 6 Meter siebzehn, die dritte 18 Meter und so weiter. Sie haben aber alle bei aller Unterschiedlichkeit grüngelbe Strahlen, sie fühlen sich für ihre Kinder verantwortlich. Wir wissen also: Die erste Müttergruppe ist die Gruppe mit dem Verantwortungsgefühl für Kinder. „Ich fühle mich für Dich verantwortlich.“

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Film weiter, zweite Müttergruppe. Anhalten, wieder ein Standbild. Schauen Sie sich bitte die zweite Müttergruppe an. Sie sehen wie bei der ersten Gruppe viele bunte Gefühlsstrahlen aus den Herzen kommen. Alle Mütter haben wie eben rote Strahlen, sie lieben ihre Kinder, unterschiedlich intensiv wie eben. Halten Sie nun nach den grüngelben Strahlen Ausschau. Sie finden nichts? Nehmen sie die Lupe! Wir vergrößern. Wieder nichts? Ja, sie können auch nichts finden, denn diese Mütter haben ein anders gebautes Herz als die Mütter eben. Sie haben kein Grüngelb! Alle Mütter der zweiten Gruppe tragen kein! Verantwortungsgefühl in sich. Sie fühlen sich nicht für ihre Kinder verantwortlich. Die Mütter unterscheiden sich nicht im Handeln – aber in der Gefühlswelt. „Ich fühle mich nicht für Dich verantwortlich“.Warum? Weil diese Mütter wissen: Ein jeder Mensch, und sei er noch so klein, ist für sich selbst verantwortlich, und ein "Ich bin für Dich verantwortlich" ist für sie eine Anmaßung, die sie nicht in sich tragen.

Bei der zweiten Müttergruppe können Sie aber Gefühlsstrahlen erkennen, die bei der ersten Müttergruppe nicht zu finden sind. Sehen Sie das Orangeviolett? Alle Mütter haben diesen orangevioletten Gefühlsstrahl. Unterschiedlich intensiv, die eine 2 Meter zehn, die zweite 5 Meter dreißig, die dritte 19 Meter achtzig und so weiter. Was ist das für ein Gefühl? Im Handbuch für Gefühle finden Sie die Antwort: „Würdekronen-Achtungsgefühl“. Darunter steht eine längere Erklärung, es wird auf meinen Vortrag verwiesen, auf die Gleichwertigkeit und die Selbstverantwortung der Kinder. Und auf den Indianer und den Büffel. Da steht: „Orangeviolett ist ein spezielles Gleichwertigkeitsgefühl, das an die Stelle des Verantwortungsgefühls tritt“.

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Die Gleichwertigkeit, von der ich spreche, ist also ein psychologisch Ding. Als Erwachsener fühle ich die Gleichwertigkeit zu Kindern. Menschen können dieses Gefühl in sich haben oder nicht. Ich habe es in mir. Mit Ihrer Brille können Sie erkennen, wie es orangeviolett aus meinem Herzen kommt. Aber Sie werden grüngelb, das Verantwortungsgefühl, nicht finden.

Gibt es so etwas, dass Menschen unterschiedliche Gefühle haben? Das ist banal. Der eine hasst, der andere liebt. Und Gefühle können sich ändern, aus Hass kann Liebe werden. Das Verantwortungsgefühl kann weniger werden und gänzlich gehen, und gleichzeitig kann das Gleichwertigkeitsgefühl wachsen und wachsen und das Verantwortungsgefühl ablösen. Oder das Gleichwertigkeitsgefühl ist da und war verdeckt und kommt nun heraus. Oder hat heimlich gestrahlt. Wie auch immer.

Das Gleichwertigkeitsgefühl macht mich nicht hilflos und handlungsunfähig. Das Kind kann nicht in die Steckdose fassen, die Kuh ist tot und der Büffel auch. Aber bei meinem Handeln schwingt nicht ein Oben-Unten mit. Sondern? Das jedenfalls nicht! Es schwingt ein anderes Gefühl mit, das gleichwertig daherkommt. Ich nenne es das Gleichwertigkeitsgefühl oder das Würdekronen-Achtungsgefühl. Es kommt aus einem Gefühlsland, das jenseits jeglicher Erziehung, Mission, Vormundschaftlichkeit und so weiter existiert.