Montag, 2. März 2020
Abendresümee
"Dann reicht es also, wenn ich meinem Sohn mehr Raum gebe?" Das Resümee einer Mutter nach meinem Vortrag, aber auch eine Frage an mich. Na ja, denke ich, den Kindern mehr Raum geben ist immer gut, aber das ist nicht das, was ich vermitteln wollte. Das sage ich ihr dann auch. Und ich sage ihr, um was es mir heute Abend ging.
Es macht nicht den Unterschied aus, ob wir gelassen, kurzangebunden oder langleinig mit den Kindern umgehen. Wiewohl eine geduldige, raumgebende Art besser ist als eine genervte oder einschränkende. Es kommt nicht auf die Länge der Leine an, wiewohl die längere sympathischer ist. Es kommt auf die Leine selbst an. Ich erzähle nicht von Großzügigkeit im Gegensatz zu Kleinzügigkeit. Ich erzähle von etwas anderem. Etwas gänzlich anderem. Von der Leine selbst, ihrer Grundsubstanz, ihrem Material, nicht ihrer Kürze oder Länge. Und davon, dass wir die bekannte (längere oder kürzere) Leine gänzlich aus der Hand legen können.
Wenn wir großzügig sind (oder nicht großzügig), dann gehen wir - selbstverständlich - davon aus, dass wir stellvertretend für die Kinder die angemessenen Entscheidungen für sie treffen. Treffen müssen, weil die Kinder das noch nicht können. Was offensichtlich ist. So offensichtlich, dass darüber - überhaupt Entscheidungen für die Kinder zu treffen - nicht nachgedacht wird. Angemessene eigene Entscheidungen treffen die Kinder irgendwann. Endgültig sind sie selbstkompetent, selbstverantwortlich, souverän (oder wie immer man das nennen will) mit 18 Jahren. Was heißt: Volljährigkeit. Was auch mit 19 oder 21 oder 17 sein könnte. Bei uns gilt eben 18, von 21 herabgesetzt per Bundestagsabstimmung, so beschlossen am 22. März 1974, wirksam ab 1. Januar 1975.
Zwischendurch, auf dem Weg dorthin, in die Selbstverantwortlichkeit/Selbstständigkeit mit 18, überlassen wir den Kindern mehr und mehr Lebensbereiche. Wo wir merken, dass sie es können, "schon" können oder "endlich" können. Die Dinge selbst gut richten: Den Stuhl ohne Runterfallen erklimmen, die Hände ohne Überschwemmung waschen, das passende Schuhzeug raussuchen (Sandalen, Halbschuhe, feste Schuhe, Gummistiefel, barfuß), den Handykonsum im Griff haben, zur rechten Zeit nach Hause kommen.
Wir sind stellvertretend für sie verantwortlich, bis sie das selbst können. Und in diesem Szenario lässt sich dann - bei gutem Wetter, guter Stimmung, gutem Leben - mal mehr mal weniger Raum geben.
So weit so bekannt. Jetzt kommt mein ABER: Ich bin nicht stellvertretend für die Kinder verantwortlich! Weil sie das selbst sind: selbstverantwortlich, ichkompetent, souverän. Und zwar von Anfang an - zu 100 Prozent. Nicht zunehmend mehr und mehr im Laufe der Großwerdens, und mit 18 dann angekommen. Mein Umgang mit den Kindern ist - von dieser Position her gesehen, der 100prozentigen Selbstverantwortlichkeit - so wie mein Umgang mit Erwachsenen. Jeder von uns will sein Ding machen, was immer das ist. Und wie auch immer das merkwürdig, komisch, inakzeptabel für andere auch sein mag. Wobei wir dann gegebenenfalls dazwischen gehen könnten. Oder nicht dazwischen gehen und alles passieren lassen. Raum geben oder nicht Raum eben.
Aber - und das ist der entscheidende Punkt, den ich vermitteln will - ich stelle dabei nicht in Frage sondern gehe davon aus, dass jeder, auch jedes Kind, aus seiner Sicht das grade anzetteln, tun, verwirktlichen will, was für ihn sinnvoll, richtig, angemessen, das Beste ist. Dies "Ich kann selbst entscheiden, was für mich das Beste ist" wird nicht bestritten. Es wird nicht einmal thematisiert, es ist einfach zu selbstverständlich: diese Ichkompetenz, diese Verantwortung für sich selbst, diese Souveränität. Was immer das auch für ein Ergebins hervorbringt, wie immer wir auch darauf reagieren werden. Es gilt diese Entscheidungshoheit, Souveräntät, Selbstverantwortung - als Basis. Dieses Humanum trägt jeder Mensch von Geburt an in sich. Menschen sind Selbstverantworter.
Das ist ein grundsätzlicher Wechsel in der Einschätzung der Kinder. Entweder gilt: Kinder sind nicht von Geburt an souverän und ichkompetent, sondern werden dies langsam beim Heranwachsen und sind dann mit 18 angekommen. Oder es gilt, meine Position: Kinder sind von Geburt an voll souverän und ichkomptent. Jeder Mensch ist dies, es gibt da keinen Unterschied von jungen und erwachsenen Menschen. Um diesen Blickwechsel, Grundlagenwechsel, Paradigmenwechsel geht es, nur um diesen.
Wie raumgebend wir dann auf diese ichkompetenen Entscheidungen der Kinder reagieren - das wird sich zeigen. Und das hängt von vielem ab und kann heute anders sein als morgen. Aber darüber - wieviel Raum muss sein - rede ich nicht an meinen Abenden. Ich rede davon, wie souverän Kinder, junge Menschen grundsätzlich gesehen sind. Und da komme ich mit dem ungewohnten Blick der vollen Souveränität von Anfang an.
Wobei dieser Blick, so sage ich dann, wenn die Sprache drauf kommt, jenseits jeglicher Pädagogik und jeglicher Erziehungsvorstellung ist. Denn jede Pädagogik und jede Erziehung haben diese eingeschränkte Souveränitätssicht: Kinder werden erst entscheidungssouverän. Während ich dies eben anders sehe: Kinder sind - von Geburt an - entscheidungssouverän.
Es gelingt immer wieder, an meinen Abenden auf diesen Kerngedanken aufmerksam zu machen und ihn auch zu vermitteln. Ein Nachdenken, Innehalten, einen neuen Blick zu bewirken Nach einigen Erklärungsumwegen hatte diese Mutter dann verstanden, worauf ich hinauswollte. "Die Kinder können Entscheidungen treffen, die ihnen und ihrer Sicht entsprechen. Dass sie das können, muss ich ihnen nicht absprechen. Aber ob ich das zulasse, was sie vorhaben, kann ich dann sehen. Da kann ich einschränken oder Raum geben." Hat sie verstanden? Ich glaube schon.
PS: Und wenn ein Kleinkind dann in die Steckdose fassen will, weil es sie für eine Schweineschnauze hält? Und wenn mein Nachbar dann einen SUV kaufen will, weil der "dem Klima nicht schadet"? Und wenn der Hühnerbaron dann Hühner in Käfigen hält, weil das mehr Geld bringt? Ihren Entscheidungen können wir zustimmern oder nicht zustimmen, wir können Raum geben oder keinen Raum geben. ABER: Kleinkinder, Nachbar, Hühnerbaron - alle Menschen sind ichkompetent, selbstverantwortlich, entscheidungssouverän.