Montag, 17. Februar 2020

Endlich verstehst Du!







Ich komme in dieser Woche nicht dazu, einen neuen Post zu schreiben. Ich blättere in meinen Büchern, um rasch etwas Geeignetes zu finden, und stolpere auf Seite 75 in der Themensammlung* über die Frage "Wie verhalten sich die Kinder, wenn ich aufhöre, mich für sie verantwortlich zu fühlen?"  Aufhören, sich für Kinder verantwortlich zu fühlen: Das ist sehr schwer zu erklären... weil es, ja weil es ... so unerhört, so unverantwortlich klingt. "Das meinen Sie doch nicht im Ernst?!" ist eine Standardreaktion. Das alles will gut erklärt sein. Ich stelle den Text der Themensammlung jetzt hier leicht verändert in den Blog. Ein Versuch von Klarheit und Wahrheit.

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"Wie verhalten sich die Kinder, wenn ich aufhöre, mich für sie verantwortlich zu fühlen?" Bei dieser Frage schwingt das alte Verantwortungsgefühl mit. Wer sich solche Gedanken macht, hat sich noch nicht gelöst aus dem "Ich bin für mein Kind verantwortlich". Das ist nicht weiter schlimm, aber es ist deutlich zu merken. "Wieso machst Du Dir Gedanken darüber?" Bei dieser Rückfrage wird das Verantwortungsgefühl bewusst.

Amicative Menschen machen sich selbstverständlich auch Gedanken über das Verhalten und die Entwicklung ihrer Kinder. Diese Gedanken, diese Sorge, dieses Kümmern kommen von innen. Sie kommen nicht aus einem Sollen, einer Norm (was man als gute Eltern tun sollte). Sie kommen nicht aus Verantwortung für das Kind, sondern aus Verantwortung für sich selbst. Diese Gedanken sind Ausdruck des Kümmerns um sich selbst. "Meine Liebe zu mir umfasst auch Dich, Kind. Und deswegen mache ich mir meine Gedanken, auch um Dich."

Die Verantwortung für Kinder wird nicht deswegen aufgegeben, weil das gut für die Kinder ist. Dann wäre man letztlich doch für die Kinder verantwortlich und landete bei der skurrilen Position, dass man aus Verantwortung für Kinder diese Verantwortung aufgibt. Nein: Man gibt die Verantwortung für Kinder deswegen auf, weil das gut für einen selbst ist.

Ich kann meine Einstellung - in Kindern selbstverantwortliche Wesen zu sehen - nicht rückgängig machen und will dies nicht. Ich kann und will nicht mehr jemand sein, der sich für andere verantwortlich fühlt - weil dies ein jeder Mensch selbst ist, auch ein Kind! Mich für einen anderen verantwortlich zu fühlen würde bedeuten, ihn psychisch zu überfallen und damit zu entmündigen. In bester Absicht. Aber Kinder haben wie alle Menschen eine eigene, souveräne innere Welt. Dies erkenne ich. Und dieser meiner Erkenntnis und Wahrheit, dieser meiner Wirklichkeit begegne ich mit Achtung. Dies bin ich mir schuldig.

Um das gleich klarzustellen: Damit hört ein Kümmern und Sorgen und Nahsein und Dasein nicht auf. Wer sich nicht für Kinder verantwortlich fühlt - weil sie das selbst sind - , der mutiert nicht zum Monster. Ich kümmere und sorge mich, bin nah und da nur eben nicht aus Verantwortung für Kinder - weil sie das selbst sind - sondern aus Verantwortung mir gegenüber, aus Verantwortung für mich.

Wie verhalten sich nun die Kinder, wenn man aufhört, sich für sie verantwortlich zu fühlen? Meine Erfahrung ist, dass es nach einiger Zeit des erstaunten Aufmerkens und der Nagelprobe einen erleicherten Umschwung gibt. "Endlich verstehtst Du! Endlich hörst Du auf, meine Innere Welt nach Deinem Bild zu formen." Es gibt einen unbeschwerteren Alltag. Die Kinder bieten immer das Abenteuer gleichwertiger souveräner Beziehungen an, von Selbstverantworter zu Selbstverantworter  - die Erwachsenen sind es, die sich darauf einlassen können. Wir können das Angebot der Kinder, ihnen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, verstehen und annehmen. 


* H.v.S., Amication - Themensammlung, Münster 2004, S. 75 ff.