Montag, 24. Dezember 2018
Lügenmärchen
"Wie oft lügst Du am Tag?" Mich hat die Frage überrascht. Nicht wegen des Fragers, sondern wegen der Frage. Man lügt doch überhaupt nicht oft. Und schon gar nicht mehrmals am Tag - was so eine Frage ja impliziert. Jedenfalls dachte ich das. Dass nur selten gelogen wird. Aber der Frager hat ja wohl was anderes vor Augen.
"Überhaupt nicht", sage ich. "Vielleicht einmal in 10 Jahren". Oder auch öfter? Ich denke nach, finde aber nichts. Na ja, vielleicht blende ich da ja auch was aus. Egal. Aber ich nehme die Frage auf und sinn drüber nach. Wie ist das mit der Lügerei?
Wer das tut, tun will, tun muss - sein Ding. Sogar sein gutes Recht. Gehört jemand die Wahrheit? Wir gehören uns selbst, und damit ist es auch unser Ding, wie wir mit der Wahrheit umgehen wollen. Und da gibt es eben Kleinlüger, Großlüger, Seltenlüger, Viellüger, Lügenbolde. Da ist nichts zu verurteilen. Sowas findet statt. Es will natürlich damit umgegangen sein.
Wie geht der Lügende damit um? Schlechtes Gewissen? Gutes Gewissen? Aus der Not heraus. Aus der Bestimmerei heraus. Wegen des Vorteils. Wegen der Beschämung. Wegen der Angst. Wegen der Verachtung. Wegen des Schmerzes. Wegen der Sehnsucht. Wegen der Liebe. Wegen viel. Die Wegens können edel, weniger edel oder gar nicht edel sein.
Ich mag hier im Nachdenken das Wort Lügner nicht, es ist so ungut besetzt, und ich bin nicht im Unguten, wenn ich über jemanden nachdenke, der lügt. Deswegen sage ich "Lügender". Ich schwinge nicht ins Verurteilen, ich schwinge ins Verständnishaben. Nicht, weil ich viel lüge, tu ich nicht. Sondern weil ich das für angemessen halte. Wer lügt, zettelt etwas Gutes an - klar, für sich. Die Lüge ist ein Geschöpf des Guten, der Liebe. Die man sich selbst gibt. Die einem zusteht.
Dass dies Leid und Ungutes bewirken kann, eher: wird, bleibt mir ja dabei nicht verborgen. Ich vergesse aber nicht die Quelle der Lüge. So wie mir auch das Leid der Kuh nicht verborgen bleibt, die ich töte, um zu essen. Ich töte wegen meines Vorteils, ich lüge wegen meines Vorteils. Durchs Leben gehen und meine Vorteile realisieren, finde ich richtig, und anders geht es nicht. Geht es doch? Ohne Töten kein Leben. Ohne Lügen kein - ja was? Ohne Lügen kein Leben. Lässt sich das vergleichen, übertragen?
Mit Lügen kein Leid - auf meiner Seite. Wohl Leid auf Deiner Seite. Ist das einfach nur dem Egoismus das Wort geredet? Egoismus passt beim Töten der Kuh nicht, da gilt so etwas wie unabdingbar, nötig, wenn ich nicht esse, sterbe ich. Beim Lügen gilt anderes? Seh ich nicht so. Wenn die Lüge nicht unabdingbar, nötig wäre, würde sie ja nicht kommen. Dann wird die Wahrheit gesagt. So einfach ist das!
Und wie geht es mir, wenn ich herausfinde, dass ich angelogen wurde? Ganz klar: Ich gehe nicht durch das Verurteilungs-Tor und tummele mich nicht auf dem dunklen Feld dahinter mit all den zugehörigen Seltsamkeiten: Schuldzuweisung, Empörung, Beleidigtsein, Runterputzen, Enttäuschung, Ärger, Groll, Wut, Hass, ach was weiß ich. Tore, die ins Dunkle führen, mag ich sowieso nicht, und sie liegen mir nicht.
Also: was ist, wenn ich angelogen wurde? Da bleib ich cool. Erst mal "nehm ich zur Kenntnis" (wie das so schön neutral heißt), dass es anders ist als bis grad noch gedacht. Ich korrigiere meine Wirklichkeit, sortier das um. Mir ist sofort klar, dass die Lügerei nicht grundlos stattgefunden hat, dazu fließt ein Nachsehen (seh Dir das nach). Und eine Freundlichkeit, weil ich denke, dass es dem Lügenden nicht gut geht. Wenn es ihm bei seiner Lügerei gut geht: auch gut. Mich regt das alles jedenfalls nicht auf. Ich frag mich zügig, wie es weitergeht. Mit der neuen Information, die jetzt als neue Wahrheit neben die alte Wahrheit tritt, die ja eine Nicht-Wahrheit sein soll, Lüge eben.
Will ich weiter mit dem Menschen zu tun haben, der mich angelogen hat? Das will gut bedacht sein. Ich mache ja keinen Vorwurf, nur die Verlässlichkeit ist angekratzt oder weg. Mein Vertrauen, von Dir die Wahrheit zu bekommen, ist beschädigt. Es kommt ganz drauf an, wie meine Beziehung zu Dir überhaupt ist. Wie viel mich Deine Unwahrheit nervt, Du mich nervst. Vielleicht instrumentalisiere ich Deine Lüge (nicht bewusst, aber passiert): sie kommt mir recht, weil ich meine Beziehung zu Dir eh runterfahren will. Da ist dann kein Ärger, sondern Abwendung, keine Lust auf sowas, keine Lust auf Lügenmärchen.
Ja, oder es macht mir eben nichts aus, ich seh Deine Not oder Unverfrohrenheit, Deine Sorge, dass ich Dirs übelnehme und weggehe. Wenn ich Dich genug mag, lass ich mich von Deinen Lügenmärchen nicht wegspülen. So bist Du halt. Jetzt grad mal. Oder auch öfter. Es ist schon mein Job, auf Deine Lüge zu reagieren, den mach ich dann auch. Ich freu mich über Dich, auch über Deine Lügenmärchen: so kanns schon kommen. Wenn es nicht überhand nimmt und die Frage hervorbringt: "Wie oft am Tag...