Montag, 12. November 2018

Schüler und Lehrer








"Was würden Sie tun, wenn der Unterricht langweilig ist, keiner mehr mitmacht und der Lehrer fragt, ob er zu theoretisch erklärt oder was sonst los ist?" Frage eines Schülers nach einem Vortrag in der Aula seiner Schule, jetzt im Klassenzimmer, 25 Kinder, 11. Klasse.
                                 
Kommt drauf an, wie die Beziehung zwischen den Schülern und dem Lehrer ist. Wenn es Vertrauen gibt, dann sagen die Schüler, was Sache ist. Dass der Stoff langweilig ist. Dass gestern eine Fete war, die sie grade untereinander besprechen. Dass sie sowieso jetzt keine Lust auf Unterricht haben und lieber sofort Pause machen wollen. Dass: Sonstwas. Sie sagen ihm, was wirklich anliegt, und dann wird man ja sehen.

Wenn so ein Klartext nicht geht, sagt sehr wahrscheinlich erst mal keiner was. Dann wird der Lehrer jemanden ansprechen: "Julian, was ist los?" Julian wird dann verlegen vor sich hinsehen und nichts
sagen. Oder "Ich weiss auch nicht." Im zweiten Fall kommt es leicht zu einer Beschämung. Die Schüle sollen sich offenlegen. Was sie aber nicht tun. Eine ungute Situation.

Was würde ich also tun? Ich werde ja um Rat gefragt. Was soll ich den Kindern vor mir sagen? Solche Peinlichkeiten kommen in der Schule vor. Jede Menge Peinlichkeiten, Konsequenz aus der Zwangssituation, die jede Schule als Basis nun einmal hat. Die Kindern sind nicht freiwillig dort, Teilzeitgefängnis. Wobei, auch das noch, man ins Gefängnis ja nur kommt, wenn man etwas ausgefressen hat und bestraft wird. Die Kinder haben noch nicht einmal etwas ausgefresseund werden trotzdem eingesperrt, jeden Schultag, zu ihrem Besten.

Na ja, die ganze Schulthematik kommt da in mir hoch. Aber die Kinder wollen  - ja, was wollen sie von mir? Ich habe im Vortrag auch vom Unrecht der Schule gesprochen, meine Position haben sie gehört. Rufen sie die gehörte Solidarität ab? Wollen sie einen revolutionären Rat? Wollen sie einfach nur noch einmal hören, dass ein Erwachsener tatsächlich dort unterwegs ist, wo sie sich selbst verorten, als Ausgelieferte und Rechtlose? Ich bin für sie ja ein Alien, ein Erwachsener, den es eigentlich nicht gibt. Welchen Erwachsenen kennen sie denn, der die Schule für eine Menschenrechtsverletzung hält, ihre Unterdrückung sieht und ihr Leid?

"Na ja, kommt drauf an", sage ich. "Wenn der Lehrer nett ist, würde ich wohl sagen, was anliegt. Wenn ich mich denn grade traue. Wenn er nicht nett ist, würde ich nichts machen und abwarten, was er dann macht. Irgendwie diese ganze Unannehmlichkeit durchhalten." Ihre Klassenlehrerin sitzt dabei. Ist sie gemeint? Die Kinder sehen zu ihr hin.

Das Aussprechen des Unrechts, das einem widerfahren ist, vor einer moralischen und gesellschaftlichen Autorität hat eine heilende Wirkung. In der Wahrheitskommision in Südafrika waren die Täter anwesend, wenn Desmond Tutu oder eine andere anerkannte Persönlichkeit das Unrecht aussprach, das die Täter den Opfern zufügten. Dieses Aussprechen der Wahrheit hatte immer wieder auch anrührende und grandiose Auswirkungen. Einmal konnte eine Mutter dem Mördeihres Sohnes verzeihen und ihn in den Arm nehmen.

Unrecht der Schule. An den Kindern begangen von den Lehrern. Die Wahrheit ist in der Aula und im Klassenzimmer von mir ausgesprochen. Schüler und Lehrer - Opfer und Täter. Die Lehrerin ist jetzt dabei, die Kinder sehen sie an. Kann ich die Tür zur Versöhnung öffnen? Einen Spalt schon, denke ich.