Montag, 26. November 2018
Konzentration
"Was soll ich machen, dass die Kinder mir 15 Minuten zuhören?" Eine Erzieherin fragt mich zu einem Problem, dass sie mit den Vorschulkindern hat. Sie will sie auf die Situation in der Schule vorbereiten. Doch die Kinder konzentrieren sich nicht, bis auf ein paar Ausnahmen. Sollten sie aber, so wie es sich im letzten Kindergartenjahr gehört, wenn nach dem Sommer die Schule dran ist.
Ich erzähle meinem Freund etwas vom Tage. Dann merke ich, dass er mir gar nicht zuhört, er ist mit seinem Handy zugange. Seine Konzentration ist nicht da, wo ich sie gern hätte. Und: wie es sich wohl auch gehört, wenn man sich unterhält.
Was soll ich der Erzieherin raten, wenn die Kinder sich nicht konzentrieren? Was soll ich mir raten, wenn mein Freund sich nicht konzentriert? Auf mich. Bevor ich zu einem Rat komme, sehe ich mir das ganze erst einmal grundsätzlich an. Beide Szenarien.
Mich auf etwas konzentrieren ist etwas, das mir gehört. Niemand steht über mir und kann mir zu recht sagen, dass und worauf ich mich zu konzentrieren habe. Es ist meine, meine Konzentration, sie gehört mir. Niemandem sonst. Und was für mich gilt, gilt für jeden anderen auch. Auch für die Kindergartenkinder, auch für meinen Freund.
Wenn also jemand von mir Konzentration wünscht, dann ist das ein, sein Anliegen. Das er mir mitteilt. Und ich entscheide dann, wie ich damit umgehen will. "Hörst Du mir zu?", "Hörst Du mal zu!", "Hörst Du bitte mal zu?!". Da gibt es viele Möglichkeiten. Aber stets gilt: Ich entscheide. Es geht um mich, meine Zeit, meinen Wert, meine Würde. Und wenn ich den Wunsch nach der Konzentration zurückweise: dann ist dies mein Weg. Den kann der andere respektieren. Oder er regt sich auf, fühlt sich nicht geachtet usw.
Die Erieherin wünscht sicht die Konzentration der Kinder. Anders: sie fordert sie ein. Nicht aus böser Absicht, natürlich nicht, sondern in bester Absicht. Sie hat dabei nicht präsent, dass die Konzentration der Kinder den Kindern gehört. Tiefer: Sie hat nicht präsent, dass die Kinder überhaupt sich selbst gehören. Sie gehören in dieser Situation (die sehr dehnbar ist) ihr, ihren Vorstellungen vom Besten der Kinder. Die Kinder gehören jetzt dem System, das sie fit machen will für das andere System, Schule genannt, das sie wiederum fit machen will für das dannige System, Arbeitswelt, oder "Leben", so wie die Erzieherin sich das so vorstellt, im Konsens mit den anderen Erwachsenen der Erwachsenenwelt.
Tue ich ihr Unrecht? Tja...Ich habe mitbekommen, wie die Erzieherin vor mir spricht, schaut, wie sie unterwegs ist. Ich nehme ihre missionarische Ausstrahlung wahr, ihre Verantwortung für die Kinder. In völliger Selbstverständlichkeit unserer Erwachsenenwelt: Erwachsene erziehen Kinder. Von der
Anmaßung, die von ihrem "Wunsch" ausgeht, ahnt sie nichts. Sie ist erfüllt von dem Auftrag, zu helfen, dass die Kinder zurechtkommen, gelingen, richtige Menschen werden.
Tue ich ihr Unrecht? Sie will doch helfen. Ich helfe auch. Helfen ist ohne Oben-Unten, helfen ist ok. Wenn es denn ohne Oben-Unten ist, wenn es wirklich ok ist. Ich kriege das von ihr nicht mit. Sie steht oben, die Kinder unten. Sie weiß einfach, was für die Kinder gut ist, nämlich Konzentration
einzuüben.
Dass die Kinder nicht mitziehen, ärgert sie nicht. Es macht sie ratlos. Sie mag die Kinder, sie achtet sie, sie ist einfühlsam, sie ist weit vorn. Das merke ich schon. Aber sie kommt nicht in die Wahrnehmung/Nachdenklichkeit/Innehalten, dass es im Untergrund des Ganzen eine chauvinistische und adultistische Unterdrückungsstruktur gibt.
Ich verstehe die Zwischen-den-Zeilen-Botschaft der Kinder: "Lass uns in Ruhe. Wir wollen das nicht. Was willst Du eigentlich von uns? Unsere Souveränität, unseren Kopf, unsere Seele? Verschwinde!" Die Kinder sind stark. Und unkundig. Sie werden sich weh tun. Auflaufen. Kinder, die sich nicht konzentrieren können, haben in der Schule schlechte Karten.
Es wär also angebracht, den Kindern Konzentration beizubringen. Es wäre also angebracht, meinem Freund Konzentration (auf mich) beizubringen - geht ja gar nicht. Das "Beibringen" ist das Problem. Wenn es denn ohne Oben-Unten in seiner chauvinistischen Ausprägung daherkommt, wäre es gut. So wie mein Fahrlehrer mir das Autofahren beigebracht hat. Er war der kundige Lehrer, also oben, ich war der unkundige Schüler, also unten. Dieses Szenario war ohne das missionarisch, pädagogische Oben-Unten. Und das war die Voraussetzung dafür, dass es funktionierte, seine Wissenvermittlung und meine Wissensaneignung.
Ich müsste der Erziehrin sagen, dass sie nur fahrlehrermäßig weiterkommt. Nur, dass die Kinder ja gar nicht dort stehen, wo ich stand: ich wollte Autofahren lernen. Wollen die Kinder in die Schule? "Ihr wollt doch alle in die Schule." Leuchtende Augen. "Dann lernen wir jetzt das Konzentrieren." Verständnisvolle Zustimmung.
So ist es aber nicht gewesen. Diese Kinder sind nicht schulorientiert. Sie sind in ihrem Spiel. In der Spielwelt der Vorschulkinder. Vielleicht kommen diese Kinder vor ihr überhaupt nicht an den Punkt, sich auf die Schule einzustellen (deren Monsterhaftigkeit sich ihnen in der Erwartung eines Vorschulkkindes nicht erschließt). Also sage ich der Erzieherin: "Die Kinder sind noch nicht so weit. Sie können die Kinder nicht per Klick umschalten. Versuchen sie nicht etwas, was nicht geht. Schließen Sie Frieden mit dieser Unkonzentriertheit ihrer Kinder. Sie haben sich bemüht, mehr geht
nicht." Und: "Sie können ebensowenig wie ich alles Leid der Welt verringern. Wir können uns bescheiden. Und freundlich sein, Liebe schicken, die Substanz und Grundnahrung, die den Kindern später in der Schule hilft."