Klassentreffen meiner Abi-Klasse. Auch unser Klassenlehrer ist
gekommen. "Herr Dr." begrüße ich ihn. Aber er ist problemlos im
Du mit uns, also: ein neues Du-Gefühl. Was fliegt über die 50
Jahre? Als wir reden und ich ihm von meinem Weg, meinem
Lebensweg erzähle, merke ich, dass ich in ein großes Land
schaue, mein Lebensland. Und ich merke, dass es viel und dass
es voll ist.
Klar kramen ich und die anderen und er diese und jene Story
vor, und ich erinnere mich. Ich war unter einem guten Stern
unterwegs, es war ein achtungsvoller Umgangston und ein
tragfester Respektstil, den er mit uns hatte. Eine gewisse
Zärtlichkeit und Besorgtheit machen sich in mir breit in
diesen vier Stunden: als wollte ich ihm etwas geben, zurück-
geben von dieser Achtsamkeit, mit der er mir und den anderen
begegnete.
Ich schreibe ja vehement gegen die Schule an, so wie sie heute
existiert. Selbstverständlich wusste auch er, was für uns Schüler
gut war, hatte seine pädagogische Mission. Und dass er als Lehrer
die Gedankenfreiheit von uns Kindern gar nicht erst sah und unser
Recht darauf im Gestus des Selbstverständlichen unterdrückte -
tja, darüber nachzudenken war nicht, Tabu. Und das hatten wir
auch als Schüler nicht im Blick, Tabu eben, unser Leid war un-
kennbar und unnennbar, nur mit Wucht im Untergrund unserer
Herzen. Die Verletzungen, die jeder Lehrer den ihm ausgeliefer-
ten Kindern zufügt, erkannte ich erst später, als ich selbst Lehrer
war. Mein Schultagebuch ist voll davon.
Doch die Beziehung, die zwischen ihm und mir lebte, enthielt
neben dieser Anmaßung und geistigen Gewalt ("Lest diesen
Text", "Schreibt diese Klassenarbeit", "Haltet dieses Referat",
"Kommt in diesen Raum" ... Teilzeitgefängnis Schule, voller
kulturellem Inperialismus uns Eingborenen, Nachgeborenen
gegenüber), enthielt neben dieser strukturellen Unterdrückung
eben auf der persönlichen Ebene, dem Ich-Du, eine überzeu-
gende Wahrhaftigkeit. Er war ein Fremder, ein Erwachsener,
ein Lehrer, kein Freund, nicht von Meinesgleichen. Aber
dennoch: es war Achtung und Würde im Spiel.
Eines Schultags traf ich mich morgens mit meiner Freundin
am Fluss. Wir hatten uns verabredet, nicht zur Schule zu
gehen sondern diesen Sommertag mit Paddeln und Picknick
in den Flusswiesen zu verbringen. Erfüllt paddelten wir nach-
mittags zurück. Aber was morgen in der Schule sagen? "Ich
war paddeln mit meiner Freundin", sagte ich am nächsten
Tag zu ihm. Er kannte uns als Pärchen. Nach ganz kurzem
Innehalten sagte er nur so etwas wie "Na gut" und das wars.
Es war eine Person-Person-Situation, nicht Schüler-Lehrer,
sondern Ich-Du. Er war offen und bereit, unalt und jung für
diese Authentizität.
Und jetzt ist er da, sitzt neben mir und wir reden. Grandios!
Natürlich bleibt er bei meinem "Ich bin nicht für Kinder
verantwortlich, denn das sind sie selbst" hängen, und schon
bin ich im Ausbreiten der amicativen Idee, meinem Element!
Aber wie kann ich einem Menschenleben voller Erziehung
etwas vom erziehungsfreien Leben mit Kindern erkennbar
machen? Doch er hört mir zu, und da leg ich los. Wir haben
nicht viel Zeit, eine Viertelstunde, dann wollen die anderen
zu ihrem Recht kommen, die Aufmerksamkeit wandert
weiter. Ich soll ihm etwas schicken, das mach ich. Ich denke
sofort an das Schulgtagebuch. Und auf unserer Website
steht ja auch genug. Er schreibt mir seine Adresse auf,
ein heiliger Zettel.
Ich merke: hinter mir liegt eine lange Wegstrecke, und all die
Klassenkameraden haben auch ihren Weg gehabt. Es ist viel,
mein Leben, eine große Geschichte, nicht schlecht! Auf der
Fahrt nach Hause komme ich in die Dankbarkeit dem allem
gegenüber, diesen tausenden Situationen. Und eben auch ihm
gegenüber, dem Klassenlehrer, diesem Klassenlehrer. "Hab
eine gute Zeit" schwinge ich zu ihm. Und sage diesen Zauber-
spruch auch zu mir und meinen nächsten 50 Jahren.
Vorhin tippe ich nebenbei eins seiner Lieblingsdinge an: Alt-
und Mittelhochdeutsch. Und schon trägt er das Gedicht in
dieser geheimnisvollen Sprache vor, über das wir damals eine
Klassenarbeit schrieben. Und dann frage ich ihn nach "bluot zi
bluoda" und "tandaradei" - Magie, die mich all die Jahre be-
gleitet hat. Und gebannt hören wir ihm zu, wie damals.
*
Phol ende Uuôdan uuorun zi
holza.
Dû uuart demo Balderes uolon
sîn uuoz birenkit.
Thû biguol en Sinthgunt,
Sunna era suister,
thû biguol en Frîia,
Uolla era suister;
thû biguol en Uuôdan sô
hê uuola conda:
sôse bênrenkî, sôse
blutrenkî,
sôse lidirenkî: bên zi bêna,
bluot zi bluoda,
lid zi geliden, sôse
gelimida sin !
Phol und Wodan ritten ins
Holz.
Da ward dem Fohlen Balders
der Fuß verrenkt.
Da besprach ihn Sinthgunt
(und) Sunna, ihre Schwester.
Da besprach ihn Frija (und)
Volla, ihre Schwester.
Da besprach ihn Wodan, wie
(nur) er es verstand:
So Knochenrenke wie
Blutrenke
Wie Gliedrenke: Bein zu Bein,
Blut zu Blut,
Glied zu Gliedern, als ob
geleimt sie seien !
*
Under der linden
an der heide,
dâ unser zweier bette was,
dâ muget ir vinden
schône beide
gebrochen bluomen unde gras.
Vor dem walde in einem tal,
tandaradei,
schône sanc diu nahtegal.
Ich kam gegangen
zuo der ouwe,
dô was mîn friedel komen ê.
Dâ wart ich enpfangen,
hêre frouwe,
daz ich bin sælic iemer mê.
Kuster mich? Wol tûsentstunt:
tandaradei,
seht, wie rôt mir ist der munt.
Dô het er gemachet
alsô rîche
von bluomen eine bettestat.
Des wirt noch gelachet
inneclîche,
kumt iemen an daz selbe pfat.
Bî den rôsen er wol mac,
tandaradei,
merken, wâ mirz houbet lac.
Daz er bî mir læge,
wessez iemen
(nû enwelle got!), sô schamt ich mich.
Wes er mit mir pflæge,
niemer niemen
bevinde daz, wan er und ich,
und ein kleinez vogellîn –
tandaradei,
daz mac wol getriuwe sîn.
Unter der Linde
an der Heide,
wo unser beider Bett war,
da könnt ihr schön
gebrochen finden
Blumen und Gras.
Vor dem Walde in einem Tal,
tandaradei,
sang die Nachtigall lieblich.
Ich kam
zu der Au,
da war mein Liebster schon da
Dort wurde ich empfangen,
edle Frau!
(so) dass ich für immer glücklich bin.
Küsste er mich? Wohl tausendmal!
Tandaradei,
seht, wie rot mir ist der Mund.
Da hatte er aus Blumen
ein prächtiges Bett
vorbereitet.
Darüber wird jetzt noch
herzlich gelacht,
wenn jemand denselben Weg entlang kommt.
An den Rosen kann er wohl,
tandaradei,
erkennen, wo mein Haupt lag.
Dass er bei mir lag,
wüsste das jemand
(das wolle Gott nicht!), dann würde ich mich schämen.
Was er mit mir tat,
das soll nie jemand
erfahren, außer er und ich
und ein kleines Vöglein,
tandaradei,
das kann wohl verschwiegen sein.