Montag, 30. Juni 2025

Es gibt Kartoffeln zum Abendessen

 

 

Es gibt Kartoffeln zum Abendessen. „Nudeln“, sagt der Vierjährige. Ich bin zu Besuch, höre es und überhöre es nicht. Klar, denke ich, es wird Kartoffeln geben, das „Nudeln“ lässt sich ausreden, austreiben. Werden die Eltern so machen. Doch das „Nudeln“ bleibt, nimmt zu, steht machtvoll in der Küche, mit Würde. Was ist zu tun? Was ist zu denken?

Nachgeben und Abendfrieden wahren contra den Dackel vertreiben. Den Dackel nämlich, der man ist, wenn man sich den Wünschen, diesen Wünschen der Kinder unterordnet. Dieser Gegensatz von Einlenken und Hartbleiben ist von grundsätzlicher Art. Dieses Paar ist ein Phänomen des Lebens und kommt überall vor, vom Appeasement in der großen Politik über das Berufsleben und die Partnerschaft bis ins Kinderzimmer und die Küche. Also nichts Ungewöhnliches, nichts, was aus dem Ruder läuft, sondern etwas, das dazugehört. Fragt sich, wie man damit umgeht.

Wo verorte ich mich dabei? Wenn es eine Wahl gibt: Ich entscheide, Chefgefühl, Souveränität. Kartoffeln oder Nudeln? Meine Entscheidung. Beim Abendessen mit einem Vierjährigen ist die Machtfrage klar: Die Mutter und der Vater sagen, wo es lang geht. Und das Kind? Der Andere? Der einen anderen Weg gehen will?

Wie soll ich mit einem Andersweg umgehen? Herr/Frau/Kind Andersweg sind in meinem Leben und halten mich an. Ist schon klar, was gewünscht wird. Ich kann einschwenken, meinem Jetztweg einen Korb geben und dem Andersweg folgen. Wie bekomme ich da Ruhe rein, wie zu einer guten Lösung, wie zu meinem Frieden? Wie wichtig ist mir mein Jetztweg? Was bekomme ich von Deiner Wichtigkeit mit? Wie wichtig bin ich mir? Wie wichtig bist Du mir?

Die beiden Eltern sind unterschiedlich unterwegs. Der Vater will sich die Nudeln nicht bieten lassen, die Mutter ist unentschlossen. Ich halte mich zurück, wiewohl ich ja auch etwas sagen könnte. Die Sache beginnt zu eskalieren, der Kleine fängt an zu weinen. Nudeln mit Tränen. Gar nicht gut, geht mir durch den Sinn, so was können Eltern schlecht haben. Dem Kind folgen, wenn es per Tränen unterwegs ist? „Einlenken“, wie das so schön heißt. Ich merke, dass ich für die Nudeln bin, genauer: für den Abendfrieden.

Ich habe solche Szenarien mit meinen Kindern oft erlebt. Auch diese Kartoffeln-Nudel-Geschichte hat es gegeben. Und locker und freundlich habe ich den Herd nochmal angemacht und Nudeln gekocht. Kerze auf den Tisch, Abendessen in Harmonie. Die Kartoffeln? Waren nicht so begeistert, aber war schon ok.

Es ist ja nicht immer so. Ich lasse beim Autofahren den Drängler vorbei, ich lasse sie hinter mir im Kino reden, ich zahle den überhöhten Preis. Oder ich lasse das alles eben nicht zu: den Drängler nicht vorbei, hole die Kinoaufsicht, bestehe auf dem korrekten Preis. What ever – ich entscheide, was ich mitmache und was ich nicht mitmache.

Ich gehöre auch nicht meinem Eben, meiner Erkenntnis, meinem Plänen. Das ist ja alles schön und gut, aber zum Schluss entscheide ich, was sein soll. Vergangenheit, Erkenntnisse, Pläne haben mich nicht im Griff. Getrimmt werden wir auf anderes, auf Konsequenz, auf was sich gehört, wie es sein sollte, wie es geschrieben steht, was angesagt ist. Als Kinder haben wir diese Erzählung zu hören bekommen und in uns aufgenommen. Und wenn es heute Abend Kartoffeln gibt, die ja gewaschen, geschält, gekocht wurden, alles Mühe und Lebenszeit, dann gibt es Kartoffeln. Klar doch. Klar doch?

Was lebt da bei mir im Untergrund? Kraft und unverbrüchliche Gewissheit (ich bin, ich gehöre mir, ich bin Teil des Unendlichen) – oder braust da so eine süßlähmende Ohnmacht, immer bereit, sich in mir auszubreiten und mir den Weg zu weisen? Ich bin mit mir klar und ein Sternenkind. Und von daher wünsche ich mir, dass die Eltern von dieser großen Beiläufigkeit berührt werden und die Kartoffeln Kartoffeln sein lassen.

„Ich glaub, ich mach ihm Nudeln.“ Die Welt der Mutter lugt in die Küche, breitet sich in der Küche aus. Erreicht den Vater. „Ok“, sagt er. So ganz selbstverständlich. Ich bin fasziniert – sie können das! Tränen wegzaubern und die Kerze anzünden.

Montag, 23. Juni 2025

Nur: dass wir eben nichts müssen!

 


Gesprächsrunde mit sieben Müttern. Eine Mutter sagt: "Ich mach so viel falsch. Ich krieg es oft einfach nicht hin. Und ich kann mich dann nicht leiden." Sie sieht zu ihrer Freundin: "Du machst alles richtig!". Die lacht und sieht das anders.

Tja. Meinen Vortrag habe ich gehalten. Wie das so ist mit der Erziehungsfreiheit, der Souveränität, dem Sich-Selbst-Gehören. Und: dass man keinen wirklichen Fehler machen kann, weil letztlich niemand der Oberschiedsrichter ist.

Verpufft. "Ich mache so viel falsch.“ Sie will ihre Fehler erkennen, daran arbeiten, eine bessere Mutter werden. Es schwingt mit, was sie alles muss, besser: müsste.

"Sie müssen gar nichts", sage ich. Nicht in diesem Sinne. Ich erkläre, wie ich das meine. "Sie müssen nicht einmal leben. Sie wollen." Belehre ich sie? Als Besserwisser? Was soll das bringen, ihr den Unterschied von "müssen" und "müssen" klar zu machen?

"Sie müssen nicht tanken. Niemand muss Autofahren. Jeder kann laufen." Es geht um dieses Müssen. "Aber wenn sie Autofahren wollen, müssen sie tanken." Das andere Müssen. Über das wir selbst befinden, das uns nicht im Griff hat.

Sie ist da aber fest im Griff. Sie muss ihre Fehler erkennen und eine gute Mutter werden. Ich erzähle hin und her, dies und das. Rote Ampel, Steuern zahlen, Kinder wickeln: Wir müssen da gar nichts. Wir wollen. Konsequenzen, wenn wir nicht tun, was wir müssen, sind bekannt. Nur: dass wir eben nicht müssen!

Die anderen hören zu. Noch habe ich das Gefühl, dass ich sie nicht bedränge. Ich bin sehr deutlich. Kämpfe ich um dieses Kind vor mir? Gegen die Dämonen unserer Kindheit? Zeige ich ihr ihre Würdekrone? "Sie gehören sich selbst." Und ich zeige ihr dieses Tor zu der anderen Welt: "Sie können sich lieben, so wie Sie sind. Sie sind die Schönste im ganzen Land – frisch gelogen, trotzdem wahr! Sie können sich in Ruhe lassen, müssen sich nichts übelnehmen."

Es gibt dann diesen Moment, wo sie wirklich zuhört. In Resonanz gerät zu meinem Wortschwall. Wo ihr "Aber ich muss doch" leiser wird. Wo sie in den kindlichen Blick fällt.

"Macht ja auch nichts, wenn Sie sich blöd finden. Es gibt keinen Zwang, sich zu mögen. Es ist nur eine Möglichkeit, mit sich umzugehen. Schönreden statt Schlechtreden."

Beim Verabschieden gibt sie mir die Hand. "Wird schon", sage ich. "Danke", sagt sie.


Montag, 16. Juni 2025

Armer Sünder oder Ebenbild Gottes?

 


Auf meinen Vorträgen erzähle ich:

 

Unser Bild von uns selbst hat viele Facetten. Auch diese ist dabei: Bin ich okay? Kann ich an mich glauben? Kann ich mich lieben, so wie ich bin? Oder kann ich das alles nicht? Die Selbstliebe ist eine Lebenskraft wie der Lebenswille. Wie sind wir unterwegs?  

Nun, Sie wissen, dass Sie Fehler machen können. Dass Sie einsehen müssen, was falsch ist. Dass Sie sich verbessern müssen. Um weiterzukommen, muss man zunächst seine Fehler erkennen. Dann sie korrigieren.  

Man kommt nicht fertig auf die Welt, man muss besser werden, ein besserer Mensch werden. Wenn man das nicht schafft, gibt es Schuldgefühle. Und man holt sich Hilfe. Beratung, Seminare, Therapie, alles Mögliche. 

Aber das geht auch anders.  

»Fehler«: im Alltag schwingt bei diesem Wort etwas Herabsetzendes mit. Im Unterschied zur Mathematik, einer abstrakten Ideenwelt, da gehören richtig und falsch und Fehler zum Regelwerk. Oder bei eindeutigen Verabredungen wie bei einem Hausbau: senkrecht Stein auf Stein, nicht schräg.  

Aber im Alltagsleben ist das Wort »Fehler« ungut befrachtet. Wie »Unkraut«. »Fehler« setzt etwas herab. Nämlich das, was gerade eben noch richtig und gültig war. Die Vergangenheit steht schlecht da, und sie sagt: »Eben war ich gültig, wieso machst Du mich schlecht?«  

Das habe ich verstanden. Alles hat gleichen Wert, Vergangenes wie Gegenwärtiges wie Künftiges. Also schaue ich nicht herabsetzend auf meine Vergangenheit und sage nicht »Fehler« zu ihr, wenn etwas schiefläuft.

Ich erkenne sehr wohl, dass ich etwas jetzt, heute, im Nachhinein anders machen kann als eben. Ich kann mich verändern. Und ich ändere mich ja auch. Aber immer auf einem 100-Prozent-Niveau. Mal gehe ich links herum zum Bahnhof, mal rechts herum. Und wenn etwas daneben geht, mache ich es ja nicht noch mal.  

Aber ich schimpfe nicht mit dem Eben, ich schimpfe nicht mit mir. Ich habe eben aus meinen Gründen heraus so gehandelt – jetzt handle ich anders. Da ist nichts Marke »Fehler« dabei.  

Mit anderen Worten, konsequent und radikal: Ich und auch sonst niemand kann überhaupt einen Fehler machen – weil es so etwas wie einen »Fehler« in den alltäglichen Angelegenheiten nicht gibt. Außer in der Mathematik und Co. Ich kann somit keinen Fehler machen. Ich muss nicht einsehen, dass etwas falsch war.  

Ich muss nichts ändern, aber ich kann. Ich muss nicht »an mir arbeiten«, aber ich kann. Ich muss keine Beratungsstelle aufsuchen und keine Therapie machen, aber ich kann.  

Es ist die Frage, was Sie von sich halten. Armer Sünder oder Ebenbild Gottes? Sie haben die Wahl. Sie entscheiden über Ihr Bild von sich. Ich will Ihnen ja keinen Stress machen. Aber es liegt wirklich an Ihnen. Es ist nicht verboten, an sich zu glauben und sich zu lieben.

Sie können natürlich versuchen, all das Unangenehme und Widerspenstige an Ihnen zu verringern und abzuschleifen. An sich arbeiten, sich erziehen. Durchaus auch mit Hilfe, mit Seminaren, Büchern, Therapien. Damit Sie ein besserer Mensch werden.  

Sie können es aber auch gut sein lassen. Sich gelten lassen mit all den Widrigkeiten und dunklen Seiten, mit all den gruseligen Hörnern, die in Ihrer Seele wachsen und auf dem Kopf zu sehen sind. Wir alle haben so ein Hörnergestrüpp auf dem Kopf. Und gelegentlich kann man dann mal sehen, wie sich dieses Gestrüpp etwas zurechtstutzen lässt.  

Aber niemand muss sich das zum Desaster machen. Sie können sich auch lieben, so wie Sie sind, auch mit diesen ganzen Hörnern. Und wenn Sie dann mit hundert Jahren gestorben sind, dann brauchen Sie eben einen Sarg mit einer Kuppel für all die Hörner. So ist es, und davon geht die Welt nicht unter.



 

Montag, 9. Juni 2025

Sie führt mich durch den Wald und zu den Blumen

 

 

Aus meinem Forschungsprojekt*

 

Kirmes. Petra (12) ist mit mir im Raketenkarussell. Vor einer Stunde habe ich sie mit den anderen aus der Gruppe getroffen. Ich spüre, wie sehr ich noch ein »richtiger Erwachse­ner« bin. Ich merke, dass ich mich so benehme, wie es sich eben gehört, wenn man mit Kindern zur Kirmes geht. Als das Karussell abhebt und wir langsam aufsteigen, dann schneller werden – da sehe ich zu ihr und sie sieht zu mir: und es ist, als löse ich mich mit ihrem Lachen vom Erwachsenenstern, um mit ihr dorthin zu gleiten, wo sie und ihresgleichen leben – in ihre souveräne und fantastische Welt.

Eine Schaukel im Hinterhof. Ich bin mit Melanie (3) nach draußen gegangen. Sie will auf dem Sitz der Schaukel stehen. Ich rücke mir eine Kiste zurecht, dass ich nah sitze und zugreifen kann, wenn sie fallen sollte. Ich soll sie höher schaukeln. Ich bin sehr aufmerksam und konzentriert wegen der »Gefahr«. Für Melanie muss es sehr schön sein. Als sie sich wieder setzt und sich weiter schaukeln lässt, sieht sie mich an – und sie lacht und ist glücklich. Wir sehen uns durch und durch an: sie ist befreit, seit einer Stunde sind wir zusammen, und ich habe sie noch nicht gestoppt. Ich spüre, wie sie hier – beim Schaukeln, wie sie es will – zu sich kommt, wie sie mir ihr Innen zuwendet: »Ich kann die sein, die ich sein will. Du lässt mich Ich sein.« Sie lässt den Kopf nach hinten fallen und macht die Augen zu. Sie setzt sich wieder hin und sieht mich an und lacht. Ich bin glücklich, dass ich mich durch die Ängste der »Gefahr« durchgetraut habe. Ich kann ihr dort begegnen, wo sie jetzt gerade ist.

Es hat geregnet, die Wiesen und der Wald sind feucht. »Wer kommt mit spazieren?« Moni (11) hat Lust. Wir ziehen durch den Wald. Ich lasse mir von ihr zeigen, wie sie dies alles erlebt. Sie führt mich durch den Wald und zu den Blumen. Und sie führt mich zu einer Art des Erlebens zurück, die bei mir in Vergessenheit geriet. Wir überqueren einen Bach, und es ist, als betrete ich verlorenes Land. Die Blume, die wir von dort mitbringen, wächst wieder in mir.

 

  * H.v.S., Kinder sind wunderbar! Münster 2023, S. 168 f. u. 173

Montag, 2. Juni 2025

Und gebe sie dem bunten Leben zurück.

 


Spaziergang mit Freunden, mit Stephan und Friederike. Ich gehe mit ihrer Tochter Charlotte (2) voraus. Charlotte fällt hin und hat sich die Haut aufgeschürft. Sie blutet ein wenig und sie weint.

Was kann ich jemandem Gutes tun, der leidet? Soll ich Charlotte auf den Arm nehmen? Soll ich es wegreden? „Ist doch nicht so schlimm“ oder „Zeig mal“ oder „Das hätte aber auch schlimmer ausgehen können“ oder „Tut es sehr weh?“ Begrüße ich den Schmerz des Kinds mit der gebotenen Höflichkeit? Lehne ich ihn ab? Sehe ich nur Komplikationen? Ist die Ruhe des Spaziergangs dahin? Wie geht es mir? Bin ich verärgert? Bin ich hilflos? „Auch das noch“ oder „Wieso denn?“ oder „Ausgerechnet jetzt“.

Reagiere ich gelassen? Sollte ich gelassen reagieren? Ist Gelassenheit nicht zu kalt und unpersönlich? Kann ich persönlich und gelassen sein? Wenn ich erschrecke, macht ihr das noch mehr Angst. Wenn ich Trostformeln sage wieHeile heile Gänschen“ – was tue ich damit? Ist so etwas ein guter Zauber für kleine Kinder? Was will ich erreichen? Soll Charlotte wieder lachen? Soll sie den Schmerz verlieren, vergessen? Was habe ich gegen Schmerz? Was ist eigentlich überhaupt gegen Schmerz zu sagen? Aber wie kann man nur so etwas fragen! Doch gehört Schmerz nicht zum Leben dazu?

Also: Charlotte fällt hin und es tut ihr weh. Ich bin dabei. Ich helfe ihr auf. Ich tupfe das Blut ab. Ich sehe sie an. Ich nehme sie auf den Arm. Worte? Wozu? Welche Worte?

Wie kann ich jemandem beistehen, der in Not ist? Andersherum: Wie will ich, dass mir beigestanden wird, wenn ich in Not bin? Ich falle hin, die Haut ist aufgeschürft, ich blute. Du bist dabei. Du hilfst mir auf und gibst mit ein Taschentuch, um das Blut abzutupfen. Was wünsche ich, dass Du sagst? Was solltest Du tun, damit es mich tröstet?

Was wollen wir für Hilfe, was wollen wir für Trost? Was will ich, was willst Du? Wer sind wir, wenn wir Trost brauchen? Sollte man das wissen? Will ich wissen, wer ich bin, wenn ich Trost und Hilfe brauche? Ich habe Not und Schmerz, und Du bist dabei. Und ich wünsche mir jetzt von Dir... Es hängt davon ab, wer Du bist, wer Du in meinem Leben bist. Wie unsere Beziehung ist. Wem ich mich anvertrauen kann, zeigen kann, in mein Herz sehen lassen kann, in meine Not und in meinen Schmerz. Wen hätte ich gern dabei, wenn ich gleich hinfallen werde? Wen wünsche ich um mich herum? In guten wie in schlechten Zeiten?

Charlotte fällt hin, ich bin dabei. Hat sie mich ausgesucht? Man muss nehmen, was da ist, und jetzt bin ich da. Und es wird etwas geschehen, mit uns. Sie erlebt ihren Schmerz in meiner Gegenwart, ich erlebe ihren Schmerz in meiner Gegenwart. Meine Antwort kommt aus mir und meiner Beziehung zu ihr, aus unserer beider Realität.

Also: Charlotte fällt hin und ich bin dabei. Sie ist zwei Jahre alt, wir kennen uns ein wenig, ich habe mich über diesen jungen Menschen vor mir eine halbe Stunde lang gefreut, auf unserem Spaziergang. Ich habe ihre Souveränität und Lebendigkeit, ihre Selbstverständlichkeit und ihre Sanftheit wahrgenommen und aufgenommen. Ich habe ihr ohne Worte gesagt, dass mir ihre Gegenwart gut tut. Und ich habe von ihr ohne Worte gehört, dass es für sie okay ist, wenn ich auf dem Spaziergang mit dabei bin. Ich bin dabei, und ich bin einbezogen.

Und so antworte ich auf ihren Schmerz: „Willst du noch einen Keks?“ Und ich sage mit dem Herzen: „Das Leben geht weiter, auch mit blutender Haut. Wo waren wir eben? Wir haben Kekse auf dem Spaziergang gegessen. Ein Keks ist eine feine Sache. Er schmeckt. Schmerz schmeckt nicht. Aber kommt vor. Wenn man hinfällt. Es tut dann weh. Wer hat das gerne? Man kann ihm nicht ausweichen, aber natürlich geht er auch wieder.“

Und ich nehme sie auf den Arm, trage sie ein Stück, frage „Okay?“ Sie nickt. Ich setze sie ab und gebe sie dem bunten Leben zurück.

Und ich? Ich rede mit dem nächsten Stein, über den sie stolpern könnte und mit der nächsten Distel, die sie stechen könnte, um sie ein wenig abzulenken, diese Hindernisse auf Charlottes Wegen im Paradies.

 

Montag, 26. Mai 2025

...dass ich in scheinheiliger Selbstverständlichkeit ihr Menschenrecht beuge.

 

 

 

 

Schultagebuch*

Klasse 6a. Ich bespreche die Notengebung in Bio. Ich schlage vor, dass sie sich selbst einschätzen und dass ich ihre Selbsteinschätzung überprüfe. Sie sind einverstanden. Ich bemühe mich, nicht missverstanden zu werden. Sie müssen sich so einschätzen, „wie ihr es verdient“. Dass Notengeben Unsinn ist, ist mir klar – aber das steht jetzt nicht an. Die Liste geht herum, jeder trägt sich ein. Als ich sie zurückbekomme, ist sie bunt ausgefüllt. Bunt, Filzstiftfarben. Signalisiert mir dieses bunte Papier, dass ich es geschafft haben könnte, den Terror mit den Noten etwas zu entschärfen? Die Noten bleiben ja – aber es ist schon ein wenig anders so.

Ich weiß dabei, dass die ganze Notensache zum Fundament der Inhumanität der Schule gehört. Wie soll sich jemals zwischen einem Erwachsenen und einem Kind eine vertrauensvolle, ehrliche und hilfreiche Beziehung entwickeln, wenn einer der beiden – der Erwachsene – den anderen „objektiv“ beurteilt? Nicht persönlich beurteilt, privat für sich, wie es zu einer Beziehung dazugehört, sondern offiziell, amtlich, mit riesigen Auswirkungen für den anderen? Kontrolle ist jeder förderlichen Kommunikation entgegengesetzt.

Bei den Noten zeigt sich mir die Grundkonstruktion der Schule überdeutlich: Herrschaft von Erwachsenen über Kinder, von Lehrern über Schüler, von staatlichen Funktionären über Bürger. Konkret heißt das: Ich sehe das Kind vor mir an, sage ihm meine Beurteilung – und es muss sich unterwerfen. Nie kann daraus etwas wirklich Förderndes und Hilfreiches werden!

Ich drehe an dieser Barbarei nun so, dass sie sich erst einmal selbst ihre Beurteilung geben und behalte mir das letzte Wort vor – vor allem als Absicherung nach außen. Aber ob sie sich überhaupt diesen Beurteilungen aussetzen wollen – das kann ich nicht fragen. Und doch liegt darin, dass sie dem Beurteilungsverfahren ohne gefragt zu werden ausgesetzt sind, die Anmaßung, die Missachtung, die undemokratische Willkür, die Inhumanität. Und ich realisiere dies!

Ich frage mich, ob ich gegen jede Beurteilung von Lernleistungen bin. Nein, bin ich nicht. Wogegen bin ich? Gegen die Herrschaftsausübung beim Beurteilen. Sie lässt sich aufheben, wenn die Beurteilung freiwillig und zustimmend durch den Beurteilten, also durch das Kind geschieht. „Die in der Schule erbrachten Leistungen müssen doch eingeschätzt werden können“ – unter Missachtung der Würde der Beurteilten? 

Kinder sind Menschen, und „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Grundgesetz Artikel 1) Ich, Lehrer, bin Teil der staatlichen Gewalt. Und was tue ich? Ich schäme mich vor diesen jungen Menschen, dass ich in scheinheiliger Selbstverständlichkeit ihr Menschenrecht beuge.

 

* H.v.S., Kinderkreis im Mai. Die Revolution der Schule, Münster 2006, S. 108 f. (Original: "Der Versuch, ein kinderfreundlicher Lehrer zu ein" 1980)

 

 

Montag, 19. Mai 2025

Fragen wir unsere Kinder, ob sie glücklich sind?

 


 „Bist Du glücklich?“

Einmal ganz abgesehen davon, was das denn sein soll: „glücklich sein“ – irgendetwas Sinnvolles wird da jeder parat haben. Aber die Frage! Sie trifft mich. Sie hält mich an. Sie geht in die Tiefe. Sie dringt vor zum anderen als Person. Wann fragen wir den anderen? Fragen wir unsere Kinder, ob sie glücklich sind? Kann man Kinder überhaupt so etwas fragen? Welche Antwort könnte es da schon geben? Es wird wahrscheinlich etwas seltsam werden, das Gespräch. Wichtiger ist, dass wir uns diese Frage an unsere Kinder selbst vorlegen, im Stillen fragen: Ist dieser Mensch da vor mir glücklich? Mit seinen 2, 4, 6, 8, 10 ... Jahren?

Mit einer solchen Bereitschaft zum anderen sehen, der stillen Frage nach seiner Zufriedenheit, seinem Wohlbefinden, seinem Glück. Die Verwobenheit mit dem Glück des anderen zerrinnt leicht, geht unter im Alltag. Man kann diese Frage aber immer mal wieder hervorzotteln, den Blick zum anderen auf einmal ganz konzentriert werden lassen, ihm nah sein und diese Frage an ihn in sich selbst spüren.

Bin ich glücklich? Die Frage nach dem Glücklichsein geht auch an mich. Selbstliebe lässt diese Frage zu und geht auf mich zu. „Bist Du glücklich?“ frage ich mich, und allein das Kümmern um mich selbst, das in dieser Frage lebt, ist Kraft und Wärme. Das Kümmern um mich selbst spüren und willkommen heißen. Und dabei wie durch Zauberei merken, dass diese Frage nach innen, an mich, auch nach außen geht, mich zu Dir hinsehen lässt und Dich fragen lässt: „Bist du glücklich?“

 

Montag, 12. Mai 2025

Schulzirkus: Ein Eis für die Seele

 

 

 

Ich wurde gefragt, ob ich einen Vortrag zur Schulthematik halten könnte. Da habe ich einen besonderen Aspekt aus diesem weiten Feld herausgesucht, einen zünftigen Titel ausgedacht und einen entsprechenden Text für den Flyer geschrieben:

"Die haben doch einen Knall!"
Vom Umgang mit unangenehmen LehrerInnen

Normalerweise funktioniert die Schule. Aber es gibt oft genug Seltsamkeiten. Eltern halten sich dann lieber zurück, denn wer will es sich mit den LehrerInnen schon verderben? Sie bestimmen schließlich über die Schulkarriere ihrer Kinder. Nur meldet sich dann leicht ein ungutes Gefühl aus Groll, Ohnmacht und Demütigung. Ausgeliefert. Woher kommt das und was lässt sich dagegen tun? Holt die eigene Schulzeit die Eltern ein?

Der Abend will einen Weg aus solcher Hilflosigkeit zeigen. Wie man sich für die Kinder klar erkennbar auf ihre Seite schlagen kann, ohne dass es zum Krach mit der Schule kommt. Wie man loyal die Kinder unterstützt und listig unangenehmen LehrerInnen Paroli bietet. Auf dass man mit dem Schulzirkus etwas entspannter durch die Jahre wandern kann. Und sich über die Netten freut.

*

Der Flyer-Text: so weit, so gut. Aber: Was soll das Ganze? Ich sehe das mit der Schule ja grundsätzlich. Schulzwang contra freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das Reichsschulpflichtgesetz aus der Nazidiktatur contra Grundgesetz, Artikel II. Die Kinder sind tagtäglich nicht freiwillig an diesem Ort zusammengepfercht, den man Schule nennt. Gedankenfreiheit, Meinungsfreiheit, Freizügigkeit, körperliche Unversehrtheit: in der Schule in hohem Maße Fehlanzeige für Kinder. Der Lehrer/die Lehrerin ist die Person, die das alles durchsetzt, ein staatlicher Hoheitsträger. Die Ideologie dahinter ist der gängige Adultismus, überhöht in der Pädagogik, gelebt als Erziehung. So weit so klar, hierzu habe ich immer wieder mal etwas im Blog geschrieben, auch ein Buch ("Schule mit menschlichem Antlitz").

Natürlich kann ich einen grandiosen Vortrag über die Schule halten. Nur wer will das hören, sich das antun? Mit dem Leid der eigenen Schulzeit konfrontiert werden? Vorgehalten bekommen, dass jetzt die eigenen Kinder genau diesem Unrecht ausgesetzt sind und man das nicht zu verhindern weiß? Wo man doch Schutz und Trutz für seine Kinder sein will. 

Ich dachte mir, ich knüpfe an etwas an, das die Eltern deutlich vor Augen haben und das sie konkret belastet. Wo ich sie abholen kann, wo ich sie entlasten kann, wo ich ein bisschen Heilung anzetteln kann. Also habe ich die ganze harte Hintergründlichkeit beiseitegeschoben und mir diese eine konkrete und erlebte Sache mit der Ohnmacht vor dem Lehrer herausgegriffen. Etwas, das jeder kennt, etwas, wo jeder nicht weiß, wie er da rauskommen soll, etwas, das einfach weh tut und nicht aufhören will. Solange die Kinder in die Schule gehen. Und solange man als Mutter und Vater selbst wieder mit in die Schule geht.

Ich habe nicht vor Augen, was ich an einem solchen Abend den Leuten sagen werde. Ich meine, wie ich dann, wenn sie vor mir sitzen, in die Thematik gehen werde. Ich will mit ihnen wandern in dem Schuldschungel, und ich will mit ihnen dem Tiger Lehrer und der Anaconda Lehrerin standhalten. Wie geht man mit Ungeheuern um? Schwächer sind wir allemal, sie haben unsere Kinder in der Hand. Freundlichkeit? Einem wilden Tier gegenüber? Humor? Unterwürfigkeit? "Da haben Sie recht" dem Lehrer rüberreichen? Ist es das? Wenn unser Kind angeschrien, bloßgestellt, durch den Kakao gezogen, ungerecht beurteilt, mit negativen Emotionen beworfen, einfach ungut behandelt wird?

Ich will auf jeden Fall klar machen, dass niemand sein Kind verraten muss - auf der psychologischen Ebene. Auf der Handlungsebene: Da lässt sich nichts machen, keine Chance, der Lehrer hat die Macht und er ist die Macht, die Staatsmacht. Man würde sich nur verkämpfen, bei diesen ekligen Alltäglichkeiten. Bei einem exorbitanten Übergriff, wenn er etwa tatsächlich mein Kind geschlagen hat, ist das anders. Jetzt gehts aber um die "Seltsamkeiten" des Schulalltags.

Man kann also nichts unternehmen, wenn man bei Trost ist. Aber den Kindern etwas sagen, das geht schon, etwa: "Da kann ich nichts machen. Lehrer sind schon mal so. Aber"  - und jetzt kommt das Wichtige, was ich vermitteln will - "er hat nicht recht. Ich steh klar auf Deiner Seite, auch wenn ich da nichts machen kann." Reicht das? Für die Eltern? Für die Kinder?

Ich denke schon, dass es viel ist. So etwas offen auszusprechen hat große Wirkung. Ich denke an die Wahrheitskommission in Südafrika. Das Unrecht benennen, das geschieht. Solidarität rüberreichen. Den Eltern zeigen, dass sie nicht allein stehen in ihrer Not: Der Referent (ich also) hält zu ihnen. Den Kindern zeigen, dass sie nicht allein stehen in ihrer Not: Die Eltern halten zu ihnen. Wenigstens das. Wenn sich am Verhalten der Mächtigen schon nichts ändern lässt, dann Klarheit in der Bewertung. Klarheit und Überzeugung in der eigenen Position. Die Eltern da rausholen, aus dieser destruktiven Welt, in die der Lehrer das Kind gesteckt hat und die mit dunkler Resonanz in die Eltern fährt. Auf dass die Eltern ihre Kinder da rausholen können, aus diesem destruktiven Hineinwurf.

"Ok", werde ich sagen, "wenn ein Lehrer so drauf ist, gehen Sie Eis essen mit Ihrem Kind. Sagen Sie Ihrem Kind, dass der Lehrer meint, dass er recht hat. Was aber nur aus seiner Sicht stimmt. Und Sie können noch sagen: 'Wir müssen nicht schlecht reden über ihn, so wie er das mit Dir gemacht hat. Nur dass er aus meiner und Deiner Sicht nicht recht hat. Aber manchmal ist es schlauer, so etwas zu schlucken als einen Streit zu führen, den wir nicht gewinnen können.'"

Reicht das? Es ist mehr als Null. Es ist ein Eis für die Seele.

 

Montag, 5. Mai 2025

...sie will partout nicht ihre Barbie-Puppe abends wegräumen...

 

 


"Meine Tochter ist drei, und sie will partout nicht ihre Barbie-Puppe abends wegräumen. Ich habe es mit allem Möglichen versucht, aber sie tuts einfach nicht. Wie kann ich es schaffen, dass sie die Puppe wegräumt?"
 

Ein Alltagsproblem, Standard. Das Kind tut nicht, was die Mutter will. Ich sehe die Mutter an und nehm die Problematik grundsätzlich auf. Nicht auf der Ebene, dass man die Kinder zwingt, etwas zu tun. Obwohl das ja auch interessant genug ist. Wie zwinge ich einen anderen Menschen, das zu tun, was ich will? Die guten Worte und Kompromisse, klar, werden erst versucht. Aber wenn das Gute/Freundliche/Sanfte/Rücksichtsnehmige/Usw nichts bringt: Dann kann ich verzichten oder eben "mich durchsetzen", wie das so schön heißt. Mit den Mitteln und Mittelchen, die mir dazu einfallen. 

Mir geht es jetzt aber nicht um die Äußere Welt, also die Handlungsebene, wo man "sich durchsetzt", sondern um die Innere Welt, die Seelenebene. Denn dort ist die Mutter unterwegs und weiß nicht weiter, hat sich verkämpft. "Das kann doch nicht so schwer sein, eben die Puppe ins Regal zu stellen" - tausend gute Worte, tausend böse Worte: nichts hilft. Ich soll helfen. "Was soll ich tun, damit sie wegräumt, Herr von Schoenebeck?" 

Innere Welt: Jeder gehört sich da selbst, auch ein Kind, auch diese Tochter. Das kann man anders sehen, und es wird ja auch im - pädagogischen - Umgang mit Kindern anders gesehen. Da sollen die Kinder innerlich, seelenmäßig so sein, wie die Erwachsenen das gern hätten: einsichtig, innerlich folgsam (damit sich daraus dann die Handlungsfolgsamkeit ergibt), brav nennt man das. Wenn ein Kind sich da querlegt, nennt man das ungezogen. Was ja gar nicht geht, Trotz heißt und ausgetrieben werden muss. Die Mutter ist bei ihrer Teufelsaustreiberei gescheitert: Das Mädel denkt - denkt! seelenmäßig - gar nicht daran, die Puppe wegzuräumen. Sie hat ihre eigene Denke, eigene Sicht von den Dingen, und die heißt: Ichräumnichtweg. 

Die Mutter will, dass ich ihr den Zauberspruch verrate, mit dem sie ihr Kind vom Trotzdämon befreien kann. Auf dass ihre Tochter wieder lieb ist. Und dann tut, was doch so einfach ist: die Barbie ins Regal stellen. Liebe Leute! Diese ganze Teufelsaustreiberei ist zwar das Grundelement des traditionellen (pädagogischen) Umgangs mit den Kindern. Und da gibts Pülverchen und Mittelchen und Tipps und Bücher und Seminare und Experten. Aber von der Art bin ich eben nicht. Dafür hält die Mutter mich aber, und deswegen erwartet sie auch einen entsprechenden Pülverchenrat. 

Ich mach nun keine große Theorie mit ihr. Ich sage ihr einfach, was ich davon halte, und denk, da wird schon was überkommen. "Lassen Sie das Kind in Ruhe, Ihre Tochter will halt nicht. Was wollen Sie? Schon klar, Sie wollen, dass die Puppe ins Regal kommt. Wo ist das Problem? Sie machen den kleinen Handgriff einfach selbst." Ich krieg schon mit, dass die Mutter jetzt das Abendland den Bach runtergehen sieht. "Aber..." Bevor ich sie weiterreden lasse, was heißt: die pädagogische Anderswelt sich ausbreiten lasse, zeig ich ihr etwas von meiner Welt: 

"Sie lieben doch ihre Tochter. Sie ist grad nicht im Club der Barbiewegräumerinnen. Heute nicht, mal sehen, was morgen ist. Wenn Sie darangehen, dass sie sich ändern soll, und zwar innerlich ändern soll, was einsehen soll, dann wischen Sie Ihrer Tochter die Königskrone vom Kopf. Denn so, wie das Mädel grade ist, lieben Sie es nicht mehr, Sie sind im Groll mit ihr. Das ist doch ein viel zu hoher Preis. Ja, Sie sind nicht begeistert, aber machen Sie nicht so ein großes Fass auf. Sie müssen die Seele Ihrer Tochter nicht retten, die ist nicht in Gefahr. Ihr Kind will nur, nur! grad mal einen anderen Weg gehen als Sie. Ich finde es nicht richtig, den Willen von Kindern zu brechen, auch nicht auf die ausgeklüngelte "einfühlsame und achtsame" Art. Das ist doch einfach unwürdig. Tun Sie, was Sie tun müssen, auch stinkautoritär wenns nicht anders geht, aber lassen Sie das innere Königtum Ihrer Tochter dabei in Ruhe." 

Und weil sie das nicht versteht, was ich da meine, erklär ich das mit den zwei Ebenen und komme zum Indianer und dem Büffel: Er wird getötet - aber mit Achtung. Der Büffel stirbt nicht würdelos. "Ich kann mein Kind also zwingen, wenn es sein muss - aber es darf seinen Willen behalten?" "Ja", sage ich, "lassen Sie sich nichts bieten. Aber lassen Sie die Seele Ihrer Tochter dabei in Ruhe." Die Mutter sieht mich nachdenklich an. 

Ich bin inzwischen schon weitergewandert, sehe Partnerschaftsprobleme, politische Probleme, ach, all die ganzen Weltprobleme vor mir: Handeln, ja klar, dann verliert die eine Seite. Einer setzt sich durch. Herabsetzen dabei? Ganz sicher nicht. Gilt für alles, vom Klima über Atom über Ausbeutung über Mord und Totschlag: Ich weiß, was ich will und setze mich ein und setze mich durch (wenns denn klappt) - aber die Krone wische ich dem anderen dabei nicht vom Kopf. Auch keinem Barbiepuppenkind.

 

Montag, 28. April 2025

Leidzufügen und Elterntrost

 


 

Wenn Eltern sich durchsetzen, gibt es oft Leid und Tränen. Ein immer wiederkehrendes Thema auf meinen Vorträgen. In meinem Buch „Kinder sind wunderbar!“ schreibe ich hierzu: *


Dieses Leidzufügen beim Durchsetzen ist für die Eltern schwer zu ertragen. Wo sie doch Freudebringer sein wollen. Aber wenn wir das Leid, das wir bei den Kindern verursachen, schon nicht vermeiden können, so gibt es doch wenigstens einen Trost für uns Eltern. Gefunden bei einem großen Vorbild. Die Vorgänge, die ich gleich erzähle, kennen Sie. Ich übertrage sie in eine ungewohnte Perspektive. 

»Hier nicht, macht das woanders.« Streit an einem Sabbat im Tempel in Jerusalem vor 2000 Jahren. Jesus ist nicht begeistert. Die Händler sollen woanders hingehen. »Lass den Unfug, Jesus«, sagen sie, »wir müssen hier verkaufen. Unsere Souvenirs, Ansichtskarten und Sticker. Wir verdienen damit unser Geld und ernähren so unsere Familien.«

»Die Leute kommen hierher, zum Tempel«, fahren die Händler fort, »da ist viel Publikum, und sie kommen nicht morgen, sondern heute am Sabbat.« »Das ist ein heiliger Ort und ein heiliger Tag«, sagt Jesus nachdrücklich. »Ja, für Dich, Jesus, aber wir müssen hier unsere Geschäfte machen, Geldwechseln und so weiter. Jetzt geh weg, Du machst die Kunden verrückt, Du nervst.«

Jesus wird ärgerlich. Er hat freundlich mit ihnen geredet, aber das bringt nichts, die Geldwechsler sehen es nicht ein. Die Geldwechsler könnten ja auch gut finden, was Jesus sagt. Könnten! Tun sie aber nicht. Die Kinder könnten ja auch gut finden, was die Eltern sagen. Könnten! Tun sie aber nicht.

Jesus’ Ärger macht ihn lauter, er schreit die Händler und Geldwechsler an. Die sind entsetzt. Alle Leute sind verschreckt und ziehen sich zurück. Nichts geht mehr, kein Anhänger wird mehr verkauft, kein Geld mehr gewechselt.

Aber die Händler geben nicht auf, sie drängen ihn zurück. Da wird Jesus wütend, er greift nach einer Peitsche, schmeißt ihre Verkaufstische um und drischt auf sie ein. Er verursacht ein riesiges Getümmel – durch ihn entsteht Leid.

Jesus ist für viele Trost und Erlösung. Wie jeder von uns hat er aber auch seine Werte und Grenzen. Zu denen er steht und die er so gut es geht auch durchsetzt. Dabei entsteht durchaus Leid – wie bei den Eltern, wenn sie sich den Kindern gegenüber durchsetzen.

Jesus hat wie alle Kinder auch seine Eltern aufgeregt. Als er zwölf war, haben ihn seine Eltern einmal lange gesucht, er war drei Tage weg. Schließlich fanden sie ihn, und seine Mutter stellte ihn zur Rede:

»Kind, wie konntest Du uns das antun? Dein Vater und ich haben Dich voll Angst gesucht!« (So steht es in der Bibel.) Jesus bekam nicht mit, welches Leid er verursacht hatte. Drei Tage lang hatte er die Eltern versetzt, so vertieft war er in die Diskussionen im Tempel.

Er fragte nur aus seinem Kinderkosmos heraus: »Warum habt Ihr mich gesucht? Wusstet Ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?« Aber »sie verstanden das Wort nicht, das er zu Ihnen sagte«. Kinderkosmos eben. Marias und Josephs Schmerz und ihr Leid der letzten drei Tage wird das nicht gemildert haben, auch wenn Maria »alle diese Wort in ihrem Herzen behielt«.

Und wenn Jesus das passiert ist, wenn auch von ihm Leid ausging, von diesem Garanten und Symbol der Liebe und des Friedens, »dann«, sage ich den Eltern, »seid nicht so besorgt, wenn auch von Euch Leid ausgeht.«



* H.v.S., Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen, Münster 2023, S. 118 ff.