Montag, 18. August 2025

Es gibt Montag diesen einmaligen Geruch


 

Er nahm den Zollstock und die Wasserwaage, kniete sich hin und maß nach. Maß nochmal nach, und nochmal. Stand auf und schaute zum Kollegen im Bagger, dem mit der großen Flachschaufel. Er machte ein Zeichen mit der Hand und trat zur Seite.

Der Baggerfahrer verstand die Handbewegung und fuhr ein bisschen nach links, setze die große Schaufel vorsichtig auf und zog zentimetergenau die dunkle Straßenerde nach hinten, in die Schaufel hinein, hob dann die Schaufel, fuhr ein Stück zurück, dann zur Seite und kippte die aufgeschrabbte Erde ab. Er, der Bauarbeiter, trat wieder vor, hockte sich hin, nahm Zollstock und Wasserwaage und maß nach. Aufrichten, Blickkontakt, Daumen nach oben, jetzt stimmte es.

Ich habe Yann (4) und Johann (2) von der Kita abgeholt und wir sind mal wieder zur großen Straßenbaustelle gewandert. Hier gibt es immer was zu sehen. Heute wird der Straßenuntergrund geglättet, bevor in ein paar Tagen die Asphaltmaschine drankommt. Es ist mitten auf der Straße in Längsrichtung eine Schnur gespannt, vorn eine Stange im Boden, hinten eine Stange in den Boden. Die Schnur zeigt die Höhe der demnächst aufzutragenden Asphaltdecke an.

Vom Straßenuntergrund bis zur Schnur (später: Asphaltdecke) müssen es exakt 15 Zentimeter sein, und zwar die ganze Straßenbreite über. Der Mann vor uns misst von der Schnur aus, hält die Wasserwaage von der Schnur zum Zollstock. Und er misst auch vom Bordstein aus. Er wirft uns einen Blick zu. Später kriegen wir mit, dass er Ivo heißt.

Ich bin fasziniert über diese exakte Handarbeit der beiden Männer. Der Baggerfahrer bewegt den Steuerknüppel in Millimeterbewegungen in alle Richtungen, und die große Schaufel und die Räder, das ganze Riesenfahrzeug antworten filigran. Große Sorgfalt und große Lässigkeit.

Da fahre ich auf einer Straße einfach so dahin, tagtäglich, und denke mir nichts dabei. Aber was für ein grandioser Hintergrund! Wie viele Gedanken, Überlegungen, Bemühen, Zufriedenheit, Einverständnis, Freude, große Pläne, kleine Pläne, Pläne bis ins Detail zu Schnur, Zollstock, Wasserwaage, Stangen, Steuerknüppel, kurzer Blick, zur Seite treten, wieder vorgehen, hinhocken, anfahren, zurückfahren. Dann kommt der Baggerführer runter und sie reden kurz und lachen, dann geht es weiter.

Mein Blick wandert, ich bin aufgeweckt worden, wach für das, was so eine Straße alles in sich birgt. 200 Meter weiter: Jeder der Bordsteine vor uns wird penibel ausgerichtet, Schnur dabei, besondere Bordsteinzange, gepolsterter Steinhammer zum Justieren, Steinsäge für den Passstein. Dann kommt auf der Schulter das Spezialbetonpulver heran, Papiersack abgelegt, Löcher mit dem Hammerstiel rein, Sack aufgerissen, Betonpulver mit der Hand und ohne Handschuh rasch und gekonnt an die Bordsteinwand gehäufelt, geglättet.

 Muss da nicht Wasser drauf?“ Ich stelle Kontakt her. „Mache ich gleich“, und er holt hinter dem Stapel eine Gießkanne vor, grün, wie für den Garten. Wasser drauf, auch die Bordsteinkante wird schön sauber abgespült, mehrmals, wirklich sauber. Wasser nachholen vom Kran 200 m vorn. Wieso haben die keinen Schlauch gelegt? Meine stille Frage. Und meine stille Antwort: Haben sie eben nicht. Stör nicht ihre Kreise. Du siehst doch, in welcher Stimmigkeit, ja Harmonie sie unterwegs sind. Also nochmal Wasser drauf. „Gute Arbeit!“ „Ja immer!“ Es ist eine Zeremonie, ein heilig Tun.

Ivo: „Willst Du mitmachen?“ „Nein", sagt Yann, „das habe ich doch nicht gelernt.“ Sie quatschen ein bisschen. Und wir sind nicht allein. Neben uns ist ein Vater, der seine Tochter auch auf die Absperrung gesetzt hat: „Montag kommt die Asphaltmaschine, das wird interessant.“ „Interessant ist das alles, was hier täglich passiert“, sagt die Oma hinter mir, Enkel auf dem Arm, „der will gar nicht mehr weg.“ „Es gibt Montag diesen einmaligen Geruch“ sage ich, „den vergessen die Kinder ihr Leben nicht.“

So viele kleine Sequenzen, kleine Ereignisse, kleine Erlebnisse, heute, hier beim Straßenbau. Wann bin ich offen für diese unendliche Vielfalt um mich herum? Ich düse normalerweise so durch den Tag. Aber ab und zu komme ich in diesen besonderen Modus. Dann sehe ich alles mit der Lebenslupe. Wenn ich im Wald bei der Gymnastik das gelbe Herbstblatt neben meinem Fuß sehe und es nicht übersehe. Wenn ich die drei Schritte des Nachbarn zu seiner Garagentür sehe und sie nicht übersehe. Wenn ich die Quittung in der Hand der Kassiererin sehe – „Wollen Sie die Quittung?“ – und sie nicht übersehe, sondern die Zeit anhalte. „Wollen Sie die Quittung?“ Worte, einfach so gesprochen in den Strom der Zeit. Ich habe sie gespeichert für die Ewigkeit.




 

Montag, 4. August 2025

So einen Zauberstaub Frohgemut würde ich doch ganz gern über sie alle ausschütten

 


 

Wir haben es ja in der Hand und im Herzen, wie wir durch den Tag gehen. „Frohgemut“ ist eine von vielen Möglichkeiten.* Und wenn ich es mir recht überlege, gefällt mir frohgemut gut, sehr gut. Und ich bin immer so unterwegs, mit den gelegentlichen unausweichlichen Wolken und Gewittern.

Kinder? Die sind so: frohgemut. Bis auf die Ausnahmen. Aber mal als Grundlage gesehen. Um die nichtfröhlichen, traurigen, verstörten, verletzten Kinder kümmere ich mich, wenn es anliegt. Aber im allgemeinen, in meiner realen Welt (nicht im Erdbebenland und Kriegsland und Guselland) erlebe ich die Kinder als unbekümmert und fröhlich.

Doch vor Ort: Es ist so viel Bekümmernis in der Erwachsenenwelt ringsum. Alle haben hier und da etwas und dies und das zu ertragen, sind belastet, überanstrengt, angefasst, irgendwie einfach nicht frohgemut. Das ist keine gute Stimmung! Und eigentlich nichts, wo ich gern unterwegs bin. Nur: es gibt ja keine anderen Erwachsenen als die, die ich wahrnehme. Und deren Grundstimmung.

In den einzelnen Begegnungen ist das dann gerne anderes. Da sind sie, wenn wir miteinander reden, eigentlich gut drauf. Na ja, denke ich, ich rufe mit meinem Frohgemüt ja auch diese fröhliche Sonnenseite von ihnen ab. Da kommen sie mir nicht mit Belastung. Aber wirklich frohgemut? Sind sie nicht. Bis auf meine Lieblingsmenschen, und davon gibt es dann auch wieder einige. Also kein Grund zur Panik.

So einen Zauberstaub Frohgemut würde ich doch ganz gern über sie alle ausschütten. „Das wird schon“, „Das kriegen wir hin“ – diese Sprüche sind edel. Warum so nieder, down, trübgemut? Na ja, darum eben. Was heißt: All der ganze Schlamassel – Klima, Kriege, Flüchtlinge, Neonazis, Missbrauchsopfer, Insektensterben, Trump, Putin, Ebola, Tausend. Ist schon klar. Aber!

Aber das muss mich ja nicht im Griff haben! Ich lasse mir doch von so etwas nicht die Stimmung verderben! Ich jedenfalls nicht. Lass ich die ganzen vollgruseligen Ungeheuerlichkeiten in mein Lebensgefühl einbrechen? Ich hebe die flache Hand und halte sie diesem schwarzen Pestgerangel entgegen: „Schon gut, ich übersehe euch ja nicht, aber jetzt und hier habt ihr nichts zu suchen. Abgang!“ Lässig und entschlossen schiebe ich das alles weg und wende mich – frohgemut – dem Tag zu. Und der Nacht.

Und wenn ich hundert Jahre alt werde, sind das immerhin 100x365 Tage, also mehr als 36tausend Tage und Nächte. Da mische ich aber so was im Grundton mit: Frohgemut eben. So soll es sein, suche ich mir aus, halte ich mich dran, liebe ich und lebe ich.

 

*  Was sagt der Duden zu frohgemut? Er sagt: aufgeräumt, fidel, freudig, fröhlich, glücklich, gut gelaunt, heiter, lebenslustig, lustig, obenauf, selig, sonnig, stillvergnügt, strahlend, überglücklich, unbekümmert, unbeschwert, vergnügt


 

Montag, 28. Juli 2025

...wenn die Menschen über ihr Denken selbst bestimmen können.

 

 

Unsere Zivilisation beruht auf bestimmten geistigen Leistungen, etwa dem Wissen, um Brücken, Kühlschränke, Fernseher und Raketen bauen zu können. Doch dieses Wissen kommt aus dem Zwang, den die Erwachsenen mit der Schulpflicht der nachwachsenden Generation auferlegt. 

Unsere Zivilisation beruht auf der geistigen Versklavung unserer eigenen Kinder – nichts, worauf wir stolz sein können, und nichts, das sich nicht ändern ließe.

Lernen Kinder denn ohne Schulpflicht das, was wichtig ist ? Wichtig für wen? Für die Erwachsenen? Die Kinder werden das lernen, was aus ihrer eigenen Sicht wichtig zu lernen ist.

Die Verhältnisse werden sicher anders sein, wenn Menschen über ihr Denken selbst bestimmen können, und das ist nur für die zum Nachteil, die die Macht nicht teilen wollen. Das selbstbestimmte, von innen kommende Lernen ist ein wertvoller Schatz der Menschheit, der gehoben werden muss, wenn die anstehenden Probleme sinnvoll gelöst werden sollen.

Vielleicht wird die Post dann nicht mehr in einem Tag von Hamburg nach München befördert werden können – die Menschen werden selbst entscheiden, was ihre Lebensqualität ausmachen soll und was nicht.

 

 

Montag, 21. Juli 2025

Komm von der Mauer runter!

 
 

 „Es könnte doch etwas passieren!“ Wir sind besorgt, dass die Kinder zu Schaden kommen. Erwachsene sind für Kinder verantwortlich.

Sebastian balanciert auf der Mauer. Lina sammelt alte Flaschen. Manuel will Eis essen. Alexander fährt Rad. Jana klettert auf den Baum.

Die Verantwortung, die Erwachsene im Umgang mit Kindern übernehmen, beeinflusst das Erleben mit ihnen. „Komm von der Mauer runter!“ - „Lass die Scherben liegen!“ - „Nicht noch ein Eis!“ - „Fahr langsamer!“ - „Nicht so hoch!“ Die Angst davor, als unverantwortlich zu erscheinen, lässt die Erwachsenen zu Kindern so reden und mit ihnen umgehen, als seien sie nicht in der Lage, die Risiken ihres Tuns selbst einzuschätzen. Diese Angst lässt Erwachsene auf Kinder reagieren wie auf Noch-Nicht-Menschen. So, als seien Kinder unfertige und zur eigenen Verantwortung unfähige Wesen.

„Stimmt doch auch!“ Ich sehe das anders. All das, was Erwachsene veranlasst, aus Verantwortung einzugreifen, zu erklären, zu mahnen, zu verbieten - all das regeln die Kinder selbst, ohne Erwachsene, wenn sie unter sich sind. Sie tun es sinnvoll, in Abschätzung ihrer Möglichkeiten und der Realität ringsum. Und sie tun es täglich, viele Stunden lang.

Sie klettern allein auf der Mauer rum. Sie fassen diese Glasscherbe an und viele andere noch. Sie essen soviel davon und soviel hiervon. Ein Sturz mit dem Fahrrad hindert sie nicht, die nächste Runde zu drehen. Sie brechen sich den Arm, ohne dass die Welt untergeht.

Sie regeln ihre Dinge selbst, so wie sie es sich zutrauen und vor sich selbst verantworten. Und sicher kommt es dabei auch immer wieder zu Fehleinschätzungen - wie bei den Erwachsenen. Hören wir auf mit dem Auto zu fahren, wenn wir einen Unfall verursacht haben? Natürlich nicht, wir sagen: „Beim nächsten Mal passe ich besser auf.“ Und genau das können wir auch den Kindern zugestehen. Ohne für sie die Verantwortung zu haben, zu übernehmen - ohne ihnen ihre Verantwortung zu nehmen, wegzunehmen.

Die Kinder tun täglich ihre Dinge. Erwachsene lassen Kinder in ihren Vorstellungen aber nicht unter sich sein. Wenn wir an Kinder denken, dann immer in Bezug zu uns. Aber sie haben auch ihr eigenes Leben, mit einer eigenen Selbstverantwortlichkeit. Und wenn sie es dann mit uns zu tun bekommen, soll diese Selbstverantwortlichkeit einfach nicht mehr existieren?

Selbstverständlich ist sie dann noch da. Es ist merkwürdig, dass Erwachsene sie nicht wahrnehmen. Und ist es nicht seltsam, dass wir sofort mit unserer Verantwortung dahergestürmt kommen, wenn Kinder um uns sind? Warum? Wie gebannt bemerken wir nicht die Wirklichkeit der Kinder, in der ihre eigene Verantwortung einen festen Platz hat.

Was ist los mit den Erwachsenen? Weshalb verzichten wir darauf, Kinder als selbstverantwortliche Menschen zu sehen? Weshalb akzeptieren wir, dass Erwachsene verantwortlich für Kinder sind? Weshalb lassen wir uns in der Beziehung zu Kindern von dieser Verantwortung in Beschlag nehmen - die ursprünglich bei den Kindern selbst ist, die wir ihnen wegnehmen und uns aufbürden?

*

Der Text stammt, leicht verändert, aus meinem Buch "Kinder der Morgenröte", Münster 2004, S. 23ff

Montag, 14. Juli 2025

Sie hat das Herauskommen aus dem Wasser ihm überlassen




Eine Mutter erzählte mir: „Mein Sohn (8) war allein unterwegs und hatte Krach mit einem Erwachsenen, einem Freund der Familie. Hätte ich mich einmischen sollen?“

Die Kinder geraten immer wieder mal in unangenehme oder auch gefährliche Situationen. So etwas bricht über sie herein, oder sie haben ihren Anteil daran. In diesem Fall hatte der Sohn den Freund der Familie durch sein Verhalten verärgert, er wurde schließlich angefaucht. Und kam empört zu seiner Mutter.

Wenn die Kinder mit anderen unterwegs sind, ist das schön, aber auch voller Risiken. Das Balancieren über das Brückengeländer ist voll prickelndem Reiz, aber auch voll Risiko. Wenn der Junge dabei ins Wasser fällt, helfen Eltern ihm heraus, keine Frage. Aber hier? Soll sie zu dem Freund hingehen und die Wogen glätten? Oder kann das Kind allein herauskommen, wenn es in so ein Beziehungsgewässer gefallen ist?

Falsch machen geht nicht. Die Mutter kann intervenieren oder die Sache bei ihrem Sohn lassen. Es kommt wie immer darauf an, was man will. Sie erzählte, dass sie gespürt hat, das Ganze ihrem Kind zu überlassen. Ihr Sohn war angefasst und kam zu ihr. Beschwerde. Ein Eingreifen lag in der Luft. Aber sie hat es eben anders gemacht. Sie hat das Herauskommen aus dem Wasser ihm überlassen. War eigentlich seine Sache. Einmischen fühlte sich übergriffig an. „Es gehört ihm und er schafft das schon.“ Und so kam es auch. Ihr Sohn kam wieder runter, und nach einer Weile ging er zu dem Erwachsenen zurück „um das mit ihm zu besprechen“.

Fand ich beeindruckend. Von der Mutter: nicht hinstürzen, sondern erst mal schauen, was wirklich Sache ist. Was Sache ist bei ihr und ihren Mutterhelfegefühlen und bei ihm und seinem „Kann ich selbst hinkriegen“. Das feine Hinhören fand ich beeindruckend. Das Zuwarten. Das Offenhalten einer Tür. Es wäre nichts dabei gewesen, sofort zu intervenieren – wenn ihr Gefühl so ist. Aber sie hat eben den anderen Weg genommen.

Ich habe dann überlegt, dass wir Eltern oft, ganz oft, ich sage: viel zu oft anspringen, wenn die Kinder mit einem Beschwer daherkommen. Dann verpassen wir, dass die Beschwernisse der Kinder eben auch ihnen gehören. Ich bin dann schon in Hab-Acht-Position. Aber ich muss meinem Kind sein Beschwer nicht sofort, auf der Stelle aus der Hand nehmen (auf dass es ihm besser gehen möge).

Ich kann in gewissen Respekt vor dem Beschwer sein – dem kaputten Knie, dem Wasserfall, dem Anfauchen. Ich meine, es sind Geschehnisse aus der Welt meines Kindes. Sie gehören ihm. Ich nehme sie nicht fort aus seiner Welt, ziehe sie nicht rüber in meinen Bereich, ich vereinnahme sie nicht. Weiter: Ich vereinnahme mein Kind nicht. Wiewohl die Gelegenheit günstig ist und der Reiz groß.

Wie viel achtungsvolle Distanz haben wir unseren Kindern und ihrer Welt gegenüber? Kann man da sensibel sein? Lässt sich erkennen, was mein und was dein ist? Wie viel Verstrickung ist gesponnen, wie viel lässt sich überhaupt bemerken? (Was ja auch unter Partnern und Freunden ein großes Thema ist.) 

Ich habe das Gefühl, dass die Mutter eine gute Botschaft gesendet hat. „Okay, ich hör Dir zu und ich bin da.“ Sie hat noch nicht einmal mitgesendet „Brauchst Du mich?“ Sie hat einfach nur schwingen lassen, dass sie da ist, dass er nicht allein ist, dass er sich auf sie verlassen kann. Was ihm offensichtlich gereicht hat. Was ihn nicht weggekippt hat aus seiner Sphäre, verlockt hat, den schlappmachenden Süßeweg in ihre Arme zu nehmen. Den alle Kinder kennen, gut kennen. Der oftundoft nötig aber eben auch so süchtevoll ist. 

Der Junge konnte bei sich und seiner Power bleiben. Er trug sich nach einer Verschnaufzeit zurück ins Getümmel. In die Welt der Beziehungen, ins wilde Leben.


 

Montag, 7. Juli 2025

Vom kleinen bösen Wolf

 

 


Jeder kennt Rotkäppchen: Es begegnet im Wald dem bösen Wolf.

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Die Tradition lehrt, dass in der Wiege ein kleiner Wolf liegt. „Pass auf, dass aus ihm nicht ein großer böser Wolf wird! Menschen sind gefährlich, das Böse ist in ihnen. Sie müssen durch Erziehung zu sozialen Wesen gemacht werden!“

Hinter dieser Sicht steht die überkommene patriarchalische Auffassung, dass die Welt nicht als Einheit existiert, sondern in vielfältige Gegensätze aufgeteilt ist. So auch in das Gute auf der einen und in das Böse auf der anderen Seite. Und die erzieherische Grundposition ist dabei auf das Böse – im Menschen – fixiert, das es – durch Erziehung – auszutreiben gilt

Doch man kann das auch gänzlich anders sehen. Von der postmodernen Gleichwertigkeit aus, jenseits eines Gegensatzes von Gut und Böse. Menschen sind konstruktiv. Von Geburt an, Ebenbilder Gottes. Beauftragt, sich um das Kind zu kümmern, das ein jeder selbst ist – als Teil des Ganzen. Auch als Teil des sozialen Ganzen. Und wer sich um sich selbst kümmert, kümmert sich auch um den anderen, denn er ist ein Teil von ihm.

*

Der Wolf ist gefährlich – nur: böse ist er nicht.

 

Montag, 30. Juni 2025

Es gibt Kartoffeln zum Abendessen

 

 

Es gibt Kartoffeln zum Abendessen. „Nudeln“, sagt der Vierjährige. Ich bin zu Besuch, höre es und überhöre es nicht. Klar, denke ich, es wird Kartoffeln geben, das „Nudeln“ lässt sich ausreden, austreiben. Werden die Eltern so machen. Doch das „Nudeln“ bleibt, nimmt zu, steht machtvoll in der Küche, mit Würde. Was ist zu tun? Was ist zu denken?

Nachgeben und Abendfrieden wahren contra den Dackel vertreiben. Den Dackel nämlich, der man ist, wenn man sich den Wünschen, diesen Wünschen der Kinder unterordnet. Dieser Gegensatz von Einlenken und Hartbleiben ist von grundsätzlicher Art. Dieses Paar ist ein Phänomen des Lebens und kommt überall vor, vom Appeasement in der großen Politik über das Berufsleben und die Partnerschaft bis ins Kinderzimmer und die Küche. Also nichts Ungewöhnliches, nichts, was aus dem Ruder läuft, sondern etwas, das dazugehört. Fragt sich, wie man damit umgeht.

Wo verorte ich mich dabei? Wenn es eine Wahl gibt: Ich entscheide, Chefgefühl, Souveränität. Kartoffeln oder Nudeln? Meine Entscheidung. Beim Abendessen mit einem Vierjährigen ist die Machtfrage klar: Die Mutter und der Vater sagen, wo es lang geht. Und das Kind? Der Andere? Der einen anderen Weg gehen will?

Wie soll ich mit einem Andersweg umgehen? Herr/Frau/Kind Andersweg sind in meinem Leben und halten mich an. Ist schon klar, was gewünscht wird. Ich kann einschwenken, meinem Jetztweg einen Korb geben und dem Andersweg folgen. Wie bekomme ich da Ruhe rein, wie zu einer guten Lösung, wie zu meinem Frieden? Wie wichtig ist mir mein Jetztweg? Was bekomme ich von Deiner Wichtigkeit mit? Wie wichtig bin ich mir? Wie wichtig bist Du mir?

Die beiden Eltern sind unterschiedlich unterwegs. Der Vater will sich die Nudeln nicht bieten lassen, die Mutter ist unentschlossen. Ich halte mich zurück, wiewohl ich ja auch etwas sagen könnte. Die Sache beginnt zu eskalieren, der Kleine fängt an zu weinen. Nudeln mit Tränen. Gar nicht gut, geht mir durch den Sinn, so was können Eltern schlecht haben. Dem Kind folgen, wenn es per Tränen unterwegs ist? „Einlenken“, wie das so schön heißt. Ich merke, dass ich für die Nudeln bin, genauer: für den Abendfrieden.

Ich habe solche Szenarien mit meinen Kindern oft erlebt. Auch diese Kartoffeln-Nudel-Geschichte hat es gegeben. Und locker und freundlich habe ich den Herd nochmal angemacht und Nudeln gekocht. Kerze auf den Tisch, Abendessen in Harmonie. Die Kartoffeln? Waren nicht so begeistert, aber war schon ok.

Es ist ja nicht immer so. Ich lasse beim Autofahren den Drängler vorbei, ich lasse sie hinter mir im Kino reden, ich zahle den überhöhten Preis. Oder ich lasse das alles eben nicht zu: den Drängler nicht vorbei, hole die Kinoaufsicht, bestehe auf dem korrekten Preis. What ever – ich entscheide, was ich mitmache und was ich nicht mitmache.

Ich gehöre auch nicht meinem Eben, meiner Erkenntnis, meinem Plänen. Das ist ja alles schön und gut, aber zum Schluss entscheide ich, was sein soll. Vergangenheit, Erkenntnisse, Pläne haben mich nicht im Griff. Getrimmt werden wir auf anderes, auf Konsequenz, auf was sich gehört, wie es sein sollte, wie es geschrieben steht, was angesagt ist. Als Kinder haben wir diese Erzählung zu hören bekommen und in uns aufgenommen. Und wenn es heute Abend Kartoffeln gibt, die ja gewaschen, geschält, gekocht wurden, alles Mühe und Lebenszeit, dann gibt es Kartoffeln. Klar doch. Klar doch?

Was lebt da bei mir im Untergrund? Kraft und unverbrüchliche Gewissheit (ich bin, ich gehöre mir, ich bin Teil des Unendlichen) – oder braust da so eine süßlähmende Ohnmacht, immer bereit, sich in mir auszubreiten und mir den Weg zu weisen? Ich bin mit mir klar und ein Sternenkind. Und von daher wünsche ich mir, dass die Eltern von dieser großen Beiläufigkeit berührt werden und die Kartoffeln Kartoffeln sein lassen.

„Ich glaub, ich mach ihm Nudeln.“ Die Welt der Mutter lugt in die Küche, breitet sich in der Küche aus. Erreicht den Vater. „Ok“, sagt er. So ganz selbstverständlich. Ich bin fasziniert – sie können das! Tränen wegzaubern und die Kerze anzünden.

Montag, 23. Juni 2025

Nur: dass wir eben nichts müssen!

 


Gesprächsrunde mit sieben Müttern. Eine Mutter sagt: "Ich mach so viel falsch. Ich krieg es oft einfach nicht hin. Und ich kann mich dann nicht leiden." Sie sieht zu ihrer Freundin: "Du machst alles richtig!". Die lacht und sieht das anders.

Tja. Meinen Vortrag habe ich gehalten. Wie das so ist mit der Erziehungsfreiheit, der Souveränität, dem Sich-Selbst-Gehören. Und: dass man keinen wirklichen Fehler machen kann, weil letztlich niemand der Oberschiedsrichter ist.

Verpufft. "Ich mache so viel falsch.“ Sie will ihre Fehler erkennen, daran arbeiten, eine bessere Mutter werden. Es schwingt mit, was sie alles muss, besser: müsste.

"Sie müssen gar nichts", sage ich. Nicht in diesem Sinne. Ich erkläre, wie ich das meine. "Sie müssen nicht einmal leben. Sie wollen." Belehre ich sie? Als Besserwisser? Was soll das bringen, ihr den Unterschied von "müssen" und "müssen" klar zu machen?

"Sie müssen nicht tanken. Niemand muss Autofahren. Jeder kann laufen." Es geht um dieses Müssen. "Aber wenn sie Autofahren wollen, müssen sie tanken." Das andere Müssen. Über das wir selbst befinden, das uns nicht im Griff hat.

Sie ist da aber fest im Griff. Sie muss ihre Fehler erkennen und eine gute Mutter werden. Ich erzähle hin und her, dies und das. Rote Ampel, Steuern zahlen, Kinder wickeln: Wir müssen da gar nichts. Wir wollen. Konsequenzen, wenn wir nicht tun, was wir müssen, sind bekannt. Nur: dass wir eben nicht müssen!

Die anderen hören zu. Noch habe ich das Gefühl, dass ich sie nicht bedränge. Ich bin sehr deutlich. Kämpfe ich um dieses Kind vor mir? Gegen die Dämonen unserer Kindheit? Zeige ich ihr ihre Würdekrone? "Sie gehören sich selbst." Und ich zeige ihr dieses Tor zu der anderen Welt: "Sie können sich lieben, so wie Sie sind. Sie sind die Schönste im ganzen Land – frisch gelogen, trotzdem wahr! Sie können sich in Ruhe lassen, müssen sich nichts übelnehmen."

Es gibt dann diesen Moment, wo sie wirklich zuhört. In Resonanz gerät zu meinem Wortschwall. Wo ihr "Aber ich muss doch" leiser wird. Wo sie in den kindlichen Blick fällt.

"Macht ja auch nichts, wenn Sie sich blöd finden. Es gibt keinen Zwang, sich zu mögen. Es ist nur eine Möglichkeit, mit sich umzugehen. Schönreden statt Schlechtreden."

Beim Verabschieden gibt sie mir die Hand. "Wird schon", sage ich. "Danke", sagt sie.


Montag, 16. Juni 2025

Armer Sünder oder Ebenbild Gottes?

 


Auf meinen Vorträgen erzähle ich:

 

Unser Bild von uns selbst hat viele Facetten. Auch diese ist dabei: Bin ich okay? Kann ich an mich glauben? Kann ich mich lieben, so wie ich bin? Oder kann ich das alles nicht? Die Selbstliebe ist eine Lebenskraft wie der Lebenswille. Wie sind wir unterwegs?  

Nun, Sie wissen, dass Sie Fehler machen können. Dass Sie einsehen müssen, was falsch ist. Dass Sie sich verbessern müssen. Um weiterzukommen, muss man zunächst seine Fehler erkennen. Dann sie korrigieren.  

Man kommt nicht fertig auf die Welt, man muss besser werden, ein besserer Mensch werden. Wenn man das nicht schafft, gibt es Schuldgefühle. Und man holt sich Hilfe. Beratung, Seminare, Therapie, alles Mögliche. 

Aber das geht auch anders.  

»Fehler«: im Alltag schwingt bei diesem Wort etwas Herabsetzendes mit. Im Unterschied zur Mathematik, einer abstrakten Ideenwelt, da gehören richtig und falsch und Fehler zum Regelwerk. Oder bei eindeutigen Verabredungen wie bei einem Hausbau: senkrecht Stein auf Stein, nicht schräg.  

Aber im Alltagsleben ist das Wort »Fehler« ungut befrachtet. Wie »Unkraut«. »Fehler« setzt etwas herab. Nämlich das, was gerade eben noch richtig und gültig war. Die Vergangenheit steht schlecht da, und sie sagt: »Eben war ich gültig, wieso machst Du mich schlecht?«  

Das habe ich verstanden. Alles hat gleichen Wert, Vergangenes wie Gegenwärtiges wie Künftiges. Also schaue ich nicht herabsetzend auf meine Vergangenheit und sage nicht »Fehler« zu ihr, wenn etwas schiefläuft.

Ich erkenne sehr wohl, dass ich etwas jetzt, heute, im Nachhinein anders machen kann als eben. Ich kann mich verändern. Und ich ändere mich ja auch. Aber immer auf einem 100-Prozent-Niveau. Mal gehe ich links herum zum Bahnhof, mal rechts herum. Und wenn etwas daneben geht, mache ich es ja nicht noch mal.  

Aber ich schimpfe nicht mit dem Eben, ich schimpfe nicht mit mir. Ich habe eben aus meinen Gründen heraus so gehandelt – jetzt handle ich anders. Da ist nichts Marke »Fehler« dabei.  

Mit anderen Worten, konsequent und radikal: Ich und auch sonst niemand kann überhaupt einen Fehler machen – weil es so etwas wie einen »Fehler« in den alltäglichen Angelegenheiten nicht gibt. Außer in der Mathematik und Co. Ich kann somit keinen Fehler machen. Ich muss nicht einsehen, dass etwas falsch war.  

Ich muss nichts ändern, aber ich kann. Ich muss nicht »an mir arbeiten«, aber ich kann. Ich muss keine Beratungsstelle aufsuchen und keine Therapie machen, aber ich kann.  

Es ist die Frage, was Sie von sich halten. Armer Sünder oder Ebenbild Gottes? Sie haben die Wahl. Sie entscheiden über Ihr Bild von sich. Ich will Ihnen ja keinen Stress machen. Aber es liegt wirklich an Ihnen. Es ist nicht verboten, an sich zu glauben und sich zu lieben.

Sie können natürlich versuchen, all das Unangenehme und Widerspenstige an Ihnen zu verringern und abzuschleifen. An sich arbeiten, sich erziehen. Durchaus auch mit Hilfe, mit Seminaren, Büchern, Therapien. Damit Sie ein besserer Mensch werden.  

Sie können es aber auch gut sein lassen. Sich gelten lassen mit all den Widrigkeiten und dunklen Seiten, mit all den gruseligen Hörnern, die in Ihrer Seele wachsen und auf dem Kopf zu sehen sind. Wir alle haben so ein Hörnergestrüpp auf dem Kopf. Und gelegentlich kann man dann mal sehen, wie sich dieses Gestrüpp etwas zurechtstutzen lässt.  

Aber niemand muss sich das zum Desaster machen. Sie können sich auch lieben, so wie Sie sind, auch mit diesen ganzen Hörnern. Und wenn Sie dann mit hundert Jahren gestorben sind, dann brauchen Sie eben einen Sarg mit einer Kuppel für all die Hörner. So ist es, und davon geht die Welt nicht unter.



 

Montag, 9. Juni 2025

Sie führt mich durch den Wald und zu den Blumen

 

 

Aus meinem Forschungsprojekt*

 

Kirmes. Petra (12) ist mit mir im Raketenkarussell. Vor einer Stunde habe ich sie mit den anderen aus der Gruppe getroffen. Ich spüre, wie sehr ich noch ein »richtiger Erwachse­ner« bin. Ich merke, dass ich mich so benehme, wie es sich eben gehört, wenn man mit Kindern zur Kirmes geht. Als das Karussell abhebt und wir langsam aufsteigen, dann schneller werden – da sehe ich zu ihr und sie sieht zu mir: und es ist, als löse ich mich mit ihrem Lachen vom Erwachsenenstern, um mit ihr dorthin zu gleiten, wo sie und ihresgleichen leben – in ihre souveräne und fantastische Welt.

Eine Schaukel im Hinterhof. Ich bin mit Melanie (3) nach draußen gegangen. Sie will auf dem Sitz der Schaukel stehen. Ich rücke mir eine Kiste zurecht, dass ich nah sitze und zugreifen kann, wenn sie fallen sollte. Ich soll sie höher schaukeln. Ich bin sehr aufmerksam und konzentriert wegen der »Gefahr«. Für Melanie muss es sehr schön sein. Als sie sich wieder setzt und sich weiter schaukeln lässt, sieht sie mich an – und sie lacht und ist glücklich. Wir sehen uns durch und durch an: sie ist befreit, seit einer Stunde sind wir zusammen, und ich habe sie noch nicht gestoppt. Ich spüre, wie sie hier – beim Schaukeln, wie sie es will – zu sich kommt, wie sie mir ihr Innen zuwendet: »Ich kann die sein, die ich sein will. Du lässt mich Ich sein.« Sie lässt den Kopf nach hinten fallen und macht die Augen zu. Sie setzt sich wieder hin und sieht mich an und lacht. Ich bin glücklich, dass ich mich durch die Ängste der »Gefahr« durchgetraut habe. Ich kann ihr dort begegnen, wo sie jetzt gerade ist.

Es hat geregnet, die Wiesen und der Wald sind feucht. »Wer kommt mit spazieren?« Moni (11) hat Lust. Wir ziehen durch den Wald. Ich lasse mir von ihr zeigen, wie sie dies alles erlebt. Sie führt mich durch den Wald und zu den Blumen. Und sie führt mich zu einer Art des Erlebens zurück, die bei mir in Vergessenheit geriet. Wir überqueren einen Bach, und es ist, als betrete ich verlorenes Land. Die Blume, die wir von dort mitbringen, wächst wieder in mir.

 

  * H.v.S., Kinder sind wunderbar! Münster 2023, S. 168 f. u. 173