Montag, 29. September 2025

Wie ich die Kinder hier im Sonnenwald sehe

 


Herbstferien. Ich bin mit meinen Kindern im Harz unterwegs. Wir besuchen eine Quelle, eine heilige Quelle der Kelten und Germanen. Ich fahre immer mal wieder hierher zum nächtlichen Meditieren. Jetzt sind wir am Tag hier, Sonne, Wald, Bucheckern. Und die Quelle.

Wie ich die Kinder da so vor mir sehe, an diesem geheimnisvollen Ort. Sie sind in ihrem Spiel, unbefangen. Die Macht der Geschichte und die Tiefe der spirituellen Präsenz tun ihnen nichts. In mir verbindet sich etwas: das Leben der Kinder und die Botschaft des Ortes.

Wer aus mir trinkt, der wird ein Reh.“ Quellen erzählen viel. Was höre ich jetzt? „Schau zu Dir und den Kindern – es ist Dein Tag“. Ich höre, bin erstaunt und verstehe dann. Wie oft ist ein Tag mein Tag? Das Gefühl, nach fremden Regeln durch den Tag zu gehen. Nicht das Eigentliche tun, sondern irgendwie immer und immer wieder Fremdes. Dinge tun, die ich zwar nicht wirklich tun muss, die ich aber tue. Wegen der Selbstverständlichkeiten und der Vorteile und der Nachteile.

Ist dies hier mein Tag, meine Zeit? Bin ich jetzt bei mir? Ja doch – wie ich die Kinder hier im Sonnenwald sehe, wie ich sie mitgebracht habe zu diesem wichtigen Platz, wie wir der Quelle zuhören und aus ihr trinken. Das alles ist meins, Urgestein, so will ich sein. Es wird mir bewusst und es dringt in mein Herz. Ich fühle mich beschenkt. Ich bin bei mir: so soll es sein.

Es ist nur eben oft anders. Wie viele meiner Tage waren meine Tage? Wie war das in der Kindheit? Sind die Schulvormittage von den beiden Kinder vor mir ihre Tage? Jetzt sind Ferien, heute ist die Selbstverständlichkeit ihres Tages machtvoll. Aber es kann eben auch anders, ganz anders sein. Dann macht es sich breit, dass wir nicht mehr uns gehören. Schule ist nur ein Beispiel.

Jeder ist immer sein eigener Chef, das ist schon wahr. Aber dieses Gefühl aus dem Grund des Selbsts ist oft sehr dünn. Und auch diesen Verlust zu bemerken entgleitet leicht. Es fühlt sich dann alles einfach nicht so gut an, und der Tag wird fremd. Immerhin: Meine Wahrnehmungen kann ich oft annehmen, das hilft und die Selbstliebe kehrt zurück. Hier an der Quelle aber geht es mir gut, mein Taggefühl ist schlüssig. Ich gebe mich frei und freue mich.


Und ich schlage den Bogen zu den vielen Menschen, die seit Tausenden von Jahren hierher gekommen sind. Wie war das wohl mit „ihrem Tag“? Hier, an der Quelle? Lebten sie wie ich jetzt bei sich, in Harmonie mit sich? Ich konzentriere mich: was will ich denn wissen? Es relativiert sich alles, wenn ich an so viele Menschen denke. Da richte ich mich wieder auf uns drei im Hier und Jetzt: Wir haben eine gute Zeit. Dies ist mein Tag.


 

Montag, 22. September 2025

Auch verblüffende Sprachbilder und surreale Erlebnis-Sequenzen

 


Ich präsentiere einen fulminanten phantasievollen Flug ins Kinderland.*

Es geht um das Projekt „Unterstützen statt erziehen“. Es unterscheidet sich vom traditionellen erzieherisch geprägten Umgang mit Kindern: Kinder werden für vollwertige Menschen von Anfang an gehalten, sie müssen nicht erst durch Erziehung dazu gemacht werden.

Ich nenne das den „postpädagogischen“ Ansatz und habe über diese Thematik zum Dr. phil. promoviert (Universität Osnabrück, 1980). Ich komme nicht antiautoritär daher, ein Nein ist ein Nein, aber das verletzende „Sieh das ein, ich habe recht“ gibt es bei mir nicht. Ich handle so wie alle Eltern – nur der seelische Grundton ist von einer spezifischen, im Buch erfahrbar vorgestellten achtungsvollen Art.

Mein Text hat einen philosophischen Hintergrund, die Postmoderne (Gleichwertigkeit), und eine Erwachsenendimension, die Selbstliebe.

„Ich bin kein Erziehungswesen – ich bin ein vollwertiger Mensch, ich brauche Deine Unterstützung, aber keine pädagogische Missionierung“: So verstehe ich Kinder, und wenn das eine freundliche Revolution im Kinderzimmer sein sollte – so ist mir das recht!

Ich habe mit Esprit und Verve, persönlich und humorvoll geschrieben und viele, auch verblüffende Sprachbilder und manchmal surreale Erlebnis-Sequenzen geschaffen. So lasse ich auch Kinder, Babys und Embryos zu Wort kommen. Ich erzähle viel vom Erziehungshandeln, auch vom Klein-Klein des Alltags mit Kindern.

Der Text hat eine eigene Dynamik und ist voller Überraschungen. Abschnitt für Abschnitt nehme ich die Leserin und den Leser behutsam mit in eine neuartige Welt des Umgangs mit Kindern – leicht zu lesen, unterhaltsam, mit Tiefgang und sehr anspruchsvoll in seiner Humandimension. Auch anrührend, aber nie übergriffig oder besserwisserisch.

 

* Hubertus von Schoenebeck, Kinder sind wunderbar! 296 Seiten, 16.-, E-Book 3,99


    

 



 

Montag, 15. September 2025

Linus und Friedrich haben sich darüber hergemacht

 


Die Schaukel ist beschmiert. Mit Matsch und Lehm. Linus und Friedrich, beide 6, haben sich darüber hergemacht. Die anderen Kinder sind nicht begeistert. Ich auch nicht.

Wir sind auf dem Sommer-Camp. Wieso hat das keiner verhindert? Einige Erwachsene haben das doch gesehen! Wir besprechen abends die Szene – und dann werde ich nachdenklich.

Es gibt bei so etwas wie der beschmierten Schaukel zu wenig Raum für freundliche Reaktionen, nachsichtiges Begleiten, humorvolles Lächeln. Es gibt diesen Raum schon in uns, aber seine Tür ist sehr verborgen. Das Offensichtliche drängt sich vor und ist sofort da: „Was soll das ?“ „So ein Unsinn!“ Ablehnung Abstufung, Korrektur. Mit zugehörigem Druck: falsch, schlecht, unmöglich.

Wenn die Kinder den Tag unterwegs sind, hinterlassen sie immer ihre Spuren. Chaotische Zimmer, klatschnasse Pullover, saudreckige Stiefel. Aber es sind Zimmer! Pullover! Stiefel! „Chaotisch“, „klatschnass“, „saudreckig“ sind die Blicke aus dem Ablehnungsraum. Schnell zur Hand, aber eben nicht die einzige Sicht der Dinge. Das Zimmer, der Pullover, die Stiefel: sie erzählen so viel. Von der Energie, Freude, dem Weg und dem Leben der Kinder. Warum sehe ich das nicht?

Ich sehe es ja. Jetzt, beim Nachdenken. Im Alltagsbetrieb sehen wir das weniger. Fixiert, gebannt, festgenagelt auf das Szenario „Unangenehm“. Dies ist in uns gefahren, über uns gekommen, gelernt: als wir Kinder waren und die Reaktionen und Kommentare der Großen erlebten, zu unserem Gang durch den Tag. Wir machen das jetzt nach, als Große. Nur: dass es nicht gut tut. Mir nicht und den Kindern nicht. Und: dass ich das bemerken kann. Und: diesen Raum verlassen kann.

Matsch auf der Schaukel? Meine Güte – Problem? Wasser, Eimer, Bürste, eine kleine ungeplante Unterbrechung der Alltagskramerei. Eine geschenkte Zeit. Zum Nachsinnen, Haltmachen, Sonne und Sommerwolken genießen. Und vielleicht helfen die Kinder ja. Wir sind so ungewohnt, positiv zu reagieren. Generell! In die Freude zu gehen. In der Freude zu bleiben. Die Freude auszukosten. Wir mögen dies nicht und tun es als Schönreden ab. Das Abtun ist ja nicht verboten. Nur: schmeckt das?

Nein, es schmeckt nicht! Warum sollte ich ekliges Zeug essen? Warum eigentlich interpretieren wir so eklig? Sind wir eklig geworden? Die Blicke von Linus und Friedrich nach meinem Blick waren eindeutig. Ich war angematscht wie die Schaukel. Jetzt nehme ich meine Zauberei und der dreckige Ekel verschwindet.

Heile Welt lässt sich immer hervorholen. Generell! Fragt sich, ob man das sieht und den Mut dazu hat. Denn so etwas ist mit Bann belegt. Bann aus der Kindheit, aus dem Modus des Schlechtredens und Schimpfens. Das lasse ich hinter mir, jetzt, beim Besprechen mit den anderen. Halte ihrer Verblüffung stand und empfehle mehr davon. Mehr von dieser Heilen Welt. Mehr Sonne und Sommerwolken.


 

Montag, 8. September 2025

Und ich ihr nur gelegentlich Grasbatzen locker mache

 

 

Melanie ist drei Jahre alt, als wir an einem schönen Sommertag auf der Wiese am Fluss sitzen. Melanie, ihre Mutter und zwei Freundinnen, und ich. Melanies Mutter will in der üblichen Art ihrer Tochter vermitteln, wie gefährlich es sei, nah an der steilen Uferböschung zu spielen. Sie erklärt und warnt. Melanie reagiert typisch: sie sieht vor sich hin, dreht sich weg und signalisiert deutlich: „Lass mich in Ruhe, ich komme zurecht.“

Ich schweige und beobachte. Und ich biete mich – wortlos, ohne Aktion – Melanie an, falls sie nach mir suchen sollte. Melanie beginnt mit mir zu spielen. Die Böschungsfrage ist ungelöst. Kerstin vertraut mir jetzt ihre Tochter an und wendet sich ihren Freundinnen zu.

Ich komme mit Melanie näher zur Böschung. In mir ist keine Angst und kein Anspruch, stellvertretend für dieses selbstverantwortliche Geschöpf des Universums die Entscheidungen „zu Deinem Besten“ treffen zu müssen. Ich traue ihr zu, die Böschungsfrage selbst richtig zu entscheiden. Und ich weiß auch, dass ich mich in einem Unglücksfall auf mich verlassen kann. Melanie und ich: Wir beide können uns auf die Situation und aufeinander einlassen.

Und dann erlebe ich, wie sich ein junger Mensch von drei Jahren mit dem Fluss, den Strudeln, der Gefahr, dem Risiko, dem Steinewerfen, den Blumen, der Sonne, dem Wind beschäftigt. Wie sie lebt, lacht, ängstlich ist, mutig ist, stolz ist, sich erkundet und die Welt begreift. Wir sind in einer vertrauten, sehr nahen Beziehung, und es ist etwas von Achtung, Geheimnis und Andacht zwischen uns. Obwohl sie nichts direkt mit mir tut und ich ihr nur gelegentlich Grasbatzen locker mache zum Hineinwerfen, erleben wir dabei auch uns.


 

Montag, 1. September 2025

Kein verzweifelter Vater schlägt in meiner Gegenwart sein Kind

 



In der Postmoderne, dem philosophischen Großraum der Amication, gilt als Grundlage die Gleichwertigkeit aller Phänomene. Wenn aber alles den gleichen Rang hat - was ist dann richtig und was ist falsch? Was ist die Orientierung? Nun, jeder einzelne Mensch ist Orientierungspunkt. Was sind meine eigenen, subjektiven und privaten Werte? Ich entscheide mich in der großen Vielfalt der unendlichen Möglichkeiten. Ich bin der Mittelpunkt der Welt und des Universums. Ich sehe ringsum und beziehe meine Position. Ich wähle. Ich verantworte vor mir.

Meine Wahl und meine Werte stehen dabei nicht über der Wahl und den Werten anderer. Ich bin jedoch meinen Werten verpflichtet und setze mich für sie ein.

„Wenn alles gleichen Rang hat, dann kann doch jeder tun, was er will. Das gibt nur Mord und Totschlag und ist gewaltiger Nonsens und rechtfertigt allen Unsinn!“ Kann tun, was er will? Tun? Der, den ein Kritiker da im Sinn hat (den durchgeknallten Bösewicht nämlich), ist nicht allein auf diesem Planeten. Milliarden andere Einzelne sind um ihn herum. Mit ihren Werten. Und wenn der angeführte Bösewicht anfängt, sein Ding zu TUN, dann sind die anderen drumherum und lassen es sich bieten - oder eben nicht. Und wenn sie es sich nicht bieten lassen, dann ist es aus mit dem „Der kann tun, was er will“.

Ein jeder könnte tun, was er will. Könnte! Wenn die anderen ihn lassen. Mord und Totschlag? Ich bin einer der Milliarden Einzelnen, und in meiner Gegenwart gibt es weder Mord noch Totschlag (sofern ich die Gelegenheit und die Mittel habe, das zu verhindern). Amication ist keine offenes Tor fürs Drauflos des Einzelnen. Amication nimmt aus den Möglichkeiten die Oben-Unten-Position heraus und legt die Gleichwertigkeit zugrunde. Amication ist keine Betriebsanleitung für die Praxis ("Mach, was Du willst!"). Amication zeigt eine Verortungswelt auf, ist Hintergrundmusik für unser Handeln, Sinfonie der Gleichwertigkeit.

Ich bin nicht zimperlich. Wenn jemand in meiner Gegenwart seine Vorstellungen (die meinen gleichwertig sind) realisieren will und mir nicht passt, was er vorhat, dann unterbinde ich das. Mit den Mitteln, die ich habe und in der Hoffnung, dass sie ausreichen. Ich gewinne ja auch nicht immer, aber oft. In meiner Gegenwart schlägt kein verzweifelter Vater sein Kind, kein Dieb kommt mit der Handtasche einer alten Frau davon, kein Terrorist erschießt die Leute, kein Diktator zettelt einen Weltkrieg an.

Wenn ich interveniere, dann energisch, so dass das passiert, was ich will. Wenn ich einen Kindsmörder zur Strecke bringen kann, bevor er mein Kind abschlachtet und ich ihm zum Schluss in die Augen sehe, dann sage ich ohne Worte: „Du bist ein Ebenbild Gottes wie ich, kein Schwein. Aber Du willst einen Weg gehen, den ich nicht mitgehen kann.“ Ich töte ihn, aber ich nehme ihm nicht die Würde. Ich stehe nicht über ihm. Wie der Indigene den Büffel tötet, ohne über ihm zu stehen.

Wenn jeder aus seiner Sicht das für ihn Sinnvolle tut, tun will, dann folgt er einem universellen Sinn: Der Konstruktivität, die ihn leitet. Diese Konstruktivität gibt es im Universum seit dem Urknall, sie existiert in jedem Atom, Galaxie, Stern, Planeten, Stein, Pflanze, Tier, Mensch. Überall eben. Da bewegt sich nichts gegen sich. Und auch kein Mensch handelt gegen sich, und falls es doch so aussieht (sich jemand die Arme aufschlitzt, Heroin nimmt, von der Brücke springt), so geschieht es immer noch aus seinem Sinn, aus seiner Konstruktivität heraus.

Ein überhöhter Begriff für die universelle Konstruktivität mit Verortungen in vielen religiösen, spirituellen, philosophischen Bereichen ist Liebe. Alles geschieht aus diesem Ur. Ur was? Urplasma? Urstoff? Urphänomen? Urprinzip? Aus diesem Ur eben. Jeder einzelne ist in diesem Ur eingebettet, ist daraus gemacht und bewegt sich darin. Wie jedes einzelne Wassermolekül im Ozean, den Wolken, dem Regen. Es gibt kein Gegen-Ur. Keinen Gegensatz. Weder gut noch böse, richtig noch falsch. Einheitlich: Liebe.

Das aufs reale Leben runterzubrechen ist schwer. Der Kindsmörder ist Liebe und handelt aus Liebe? Adolf? Stalin? Mao? Putin? Tja. Aber so ist es.

Wenn man die Dinge so sieht, bekommt alles eine besondere Bedeutung. Alles wird handfest leichter, kraftvoll entspannter. Alles gibt, nichts nimmt. Die Würde bleibt. Nichts davon macht meine Entschlossenheit kleiner, diese Herrschaften zu stoppen in ihrem Tun. Meine Entschlossenheit ist ein scharfes Schwert. Und oft schaffe ich das ja auch. Kein verzweifelter Vater schlägt in meiner Gegenwart sein Kind...

 

Montag, 25. August 2025

Wenn er darum weiß und sich auf neue Pfade begibt

 

 

Ich übertrage das rassistische Wort und den rassistischen Inhalt „Neger“ auf das adultistische Wort und den adultistischen Inhalt „Kinder“. Hallo! Es sind Menschen – keine Neger! Hallo! Es sind Menschen – keine Kinder!

Die ganze große Diversitätsdebatte zeigt die verschiedensten Ecken und Winkel, in denen Menschen auf gleichwertige Beachtung und Behandlung warten. Junge Menschen sind da eine Gruppe von vielen, die nicht aus ihrer eigenen Welt heraus wahrgenommen werden. Sondern aus der Welt, der Sicht und dem Handlungsgeschehen der Anderen, aus den Fremdzuschreibungen der Erwachsenen-Dominanzgesellschaft. Was Adultismus genannt wird und was ich seit 1980 in meinen Publikationen so benannt habe.

Adultistische Diskriminierung gibt es überall. Im familiären Bereich, im Bildungsbereich, im Freizeitbereich, bei Polizei, Justiz, Standesämtern, auf dem Wohnungsmarkt. Adultistische Erfahrungen gehören für junge Menschen zum Alltag und ist gesellschaftlich tief verankert.

Was lässt sich tun?

Wichtig sind adultismusfreie Fakultäten und Lehrstühle an den Hochschulen und entsprechende Forschungen, Nötig sind Adultismus-Beschwerdestellen und Adultismus-Beauftragte in Stadt, Land und Bund. Ebenso brauchen wir eine adultismussensible Aus- und Weiterbildung aller Fachkräfte in Kindergarten, Schule und Verwaltung. Wir brauchen die Entwicklung von Diversitätskonzepten im Kommunikations- und Handlungsbereich von erwachsenen und jungen Menschen.

In dem Forschungsprojekt meiner Doktorarbeit hatte ich mich zu den jungen Menschen jenseits adultistischer Positionen und Befindlichkeiten aufgemacht. Ich bin diesen Menschen in ihrer eigenen Weltsicht und ihrer eigenen Identität begegnet und habe mit ihnen so gelebt. Wie ein Weißer das heute mit einem Schwarzen hinbekommen kann, wenn und soweit er sich vom eingeimpften, sozialisierten Rassismus löst, zu lösen beginnt. Wenn er darum weiß und sich auf neue Pfade begibt.









 

Montag, 18. August 2025

Es gibt Montag diesen einmaligen Geruch


 

Er nahm den Zollstock und die Wasserwaage, kniete sich hin und maß nach. Maß nochmal nach, und nochmal. Stand auf und schaute zum Kollegen im Bagger, dem mit der großen Flachschaufel. Er machte ein Zeichen mit der Hand und trat zur Seite.

Der Baggerfahrer verstand die Handbewegung und fuhr ein bisschen nach links, setze die große Schaufel vorsichtig auf und zog zentimetergenau die dunkle Straßenerde nach hinten, in die Schaufel hinein, hob dann die Schaufel, fuhr ein Stück zurück, dann zur Seite und kippte die aufgeschrabbte Erde ab. Er, der Bauarbeiter, trat wieder vor, hockte sich hin, nahm Zollstock und Wasserwaage und maß nach. Aufrichten, Blickkontakt, Daumen nach oben, jetzt stimmte es.

Ich habe Yann (4) und Johann (2) von der Kita abgeholt und wir sind mal wieder zur großen Straßenbaustelle gewandert. Hier gibt es immer was zu sehen. Heute wird der Straßenuntergrund geglättet, bevor in ein paar Tagen die Asphaltmaschine drankommt. Es ist mitten auf der Straße in Längsrichtung eine Schnur gespannt, vorn eine Stange im Boden, hinten eine Stange in den Boden. Die Schnur zeigt die Höhe der demnächst aufzutragenden Asphaltdecke an.

Vom Straßenuntergrund bis zur Schnur (später: Asphaltdecke) müssen es exakt 15 Zentimeter sein, und zwar die ganze Straßenbreite über. Der Mann vor uns misst von der Schnur aus, hält die Wasserwaage von der Schnur zum Zollstock. Und er misst auch vom Bordstein aus. Er wirft uns einen Blick zu. Später kriegen wir mit, dass er Ivo heißt.

Ich bin fasziniert über diese exakte Handarbeit der beiden Männer. Der Baggerfahrer bewegt den Steuerknüppel in Millimeterbewegungen in alle Richtungen, und die große Schaufel und die Räder, das ganze Riesenfahrzeug antworten filigran. Große Sorgfalt und große Lässigkeit.

Da fahre ich auf einer Straße einfach so dahin, tagtäglich, und denke mir nichts dabei. Aber was für ein grandioser Hintergrund! Wie viele Gedanken, Überlegungen, Bemühen, Zufriedenheit, Einverständnis, Freude, große Pläne, kleine Pläne, Pläne bis ins Detail zu Schnur, Zollstock, Wasserwaage, Stangen, Steuerknüppel, kurzer Blick, zur Seite treten, wieder vorgehen, hinhocken, anfahren, zurückfahren. Dann kommt der Baggerführer runter und sie reden kurz und lachen, dann geht es weiter.

Mein Blick wandert, ich bin aufgeweckt worden, wach für das, was so eine Straße alles in sich birgt. 200 Meter weiter: Jeder der Bordsteine vor uns wird penibel ausgerichtet, Schnur dabei, besondere Bordsteinzange, gepolsterter Steinhammer zum Justieren, Steinsäge für den Passstein. Dann kommt auf der Schulter das Spezialbetonpulver heran, Papiersack abgelegt, Löcher mit dem Hammerstiel rein, Sack aufgerissen, Betonpulver mit der Hand und ohne Handschuh rasch und gekonnt an die Bordsteinwand gehäufelt, geglättet.

 Muss da nicht Wasser drauf?“ Ich stelle Kontakt her. „Mache ich gleich“, und er holt hinter dem Stapel eine Gießkanne vor, grün, wie für den Garten. Wasser drauf, auch die Bordsteinkante wird schön sauber abgespült, mehrmals, wirklich sauber. Wasser nachholen vom Kran 200 m vorn. Wieso haben die keinen Schlauch gelegt? Meine stille Frage. Und meine stille Antwort: Haben sie eben nicht. Stör nicht ihre Kreise. Du siehst doch, in welcher Stimmigkeit, ja Harmonie sie unterwegs sind. Also nochmal Wasser drauf. „Gute Arbeit!“ „Ja immer!“ Es ist eine Zeremonie, ein heilig Tun.

Ivo: „Willst Du mitmachen?“ „Nein", sagt Yann, „das habe ich doch nicht gelernt.“ Sie quatschen ein bisschen. Und wir sind nicht allein. Neben uns ist ein Vater, der seine Tochter auch auf die Absperrung gesetzt hat: „Montag kommt die Asphaltmaschine, das wird interessant.“ „Interessant ist das alles, was hier täglich passiert“, sagt die Oma hinter mir, Enkel auf dem Arm, „der will gar nicht mehr weg.“ „Es gibt Montag diesen einmaligen Geruch“ sage ich, „den vergessen die Kinder ihr Leben nicht.“

So viele kleine Sequenzen, kleine Ereignisse, kleine Erlebnisse, heute, hier beim Straßenbau. Wann bin ich offen für diese unendliche Vielfalt um mich herum? Ich düse normalerweise so durch den Tag. Aber ab und zu komme ich in diesen besonderen Modus. Dann sehe ich alles mit der Lebenslupe. Wenn ich im Wald bei der Gymnastik das gelbe Herbstblatt neben meinem Fuß sehe und es nicht übersehe. Wenn ich die drei Schritte des Nachbarn zu seiner Garagentür sehe und sie nicht übersehe. Wenn ich die Quittung in der Hand der Kassiererin sehe – „Wollen Sie die Quittung?“ – und sie nicht übersehe, sondern die Zeit anhalte. „Wollen Sie die Quittung?“ Worte, einfach so gesprochen in den Strom der Zeit. Ich habe sie gespeichert für die Ewigkeit.




 

Montag, 4. August 2025

So einen Zauberstaub Frohgemut würde ich doch ganz gern über sie alle ausschütten

 


 

Wir haben es ja in der Hand und im Herzen, wie wir durch den Tag gehen. „Frohgemut“ ist eine von vielen Möglichkeiten.* Und wenn ich es mir recht überlege, gefällt mir frohgemut gut, sehr gut. Und ich bin immer so unterwegs, mit den gelegentlichen unausweichlichen Wolken und Gewittern.

Kinder? Die sind so: frohgemut. Bis auf die Ausnahmen. Aber mal als Grundlage gesehen. Um die nichtfröhlichen, traurigen, verstörten, verletzten Kinder kümmere ich mich, wenn es anliegt. Aber im allgemeinen, in meiner realen Welt (nicht im Erdbebenland und Kriegsland und Guselland) erlebe ich die Kinder als unbekümmert und fröhlich.

Doch vor Ort: Es ist so viel Bekümmernis in der Erwachsenenwelt ringsum. Alle haben hier und da etwas und dies und das zu ertragen, sind belastet, überanstrengt, angefasst, irgendwie einfach nicht frohgemut. Das ist keine gute Stimmung! Und eigentlich nichts, wo ich gern unterwegs bin. Nur: es gibt ja keine anderen Erwachsenen als die, die ich wahrnehme. Und deren Grundstimmung.

In den einzelnen Begegnungen ist das dann gerne anderes. Da sind sie, wenn wir miteinander reden, eigentlich gut drauf. Na ja, denke ich, ich rufe mit meinem Frohgemüt ja auch diese fröhliche Sonnenseite von ihnen ab. Da kommen sie mir nicht mit Belastung. Aber wirklich frohgemut? Sind sie nicht. Bis auf meine Lieblingsmenschen, und davon gibt es dann auch wieder einige. Also kein Grund zur Panik.

So einen Zauberstaub Frohgemut würde ich doch ganz gern über sie alle ausschütten. „Das wird schon“, „Das kriegen wir hin“ – diese Sprüche sind edel. Warum so nieder, down, trübgemut? Na ja, darum eben. Was heißt: All der ganze Schlamassel – Klima, Kriege, Flüchtlinge, Neonazis, Missbrauchsopfer, Insektensterben, Trump, Putin, Ebola, Tausend. Ist schon klar. Aber!

Aber das muss mich ja nicht im Griff haben! Ich lasse mir doch von so etwas nicht die Stimmung verderben! Ich jedenfalls nicht. Lass ich die ganzen vollgruseligen Ungeheuerlichkeiten in mein Lebensgefühl einbrechen? Ich hebe die flache Hand und halte sie diesem schwarzen Pestgerangel entgegen: „Schon gut, ich übersehe euch ja nicht, aber jetzt und hier habt ihr nichts zu suchen. Abgang!“ Lässig und entschlossen schiebe ich das alles weg und wende mich – frohgemut – dem Tag zu. Und der Nacht.

Und wenn ich hundert Jahre alt werde, sind das immerhin 100x365 Tage, also mehr als 36tausend Tage und Nächte. Da mische ich aber so was im Grundton mit: Frohgemut eben. So soll es sein, suche ich mir aus, halte ich mich dran, liebe ich und lebe ich.

 

*  Was sagt der Duden zu frohgemut? Er sagt: aufgeräumt, fidel, freudig, fröhlich, glücklich, gut gelaunt, heiter, lebenslustig, lustig, obenauf, selig, sonnig, stillvergnügt, strahlend, überglücklich, unbekümmert, unbeschwert, vergnügt


 

Montag, 28. Juli 2025

...wenn die Menschen über ihr Denken selbst bestimmen können.

 

 

Unsere Zivilisation beruht auf bestimmten geistigen Leistungen, etwa dem Wissen, um Brücken, Kühlschränke, Fernseher und Raketen bauen zu können. Doch dieses Wissen kommt aus dem Zwang, den die Erwachsenen mit der Schulpflicht der nachwachsenden Generation auferlegt. 

Unsere Zivilisation beruht auf der geistigen Versklavung unserer eigenen Kinder – nichts, worauf wir stolz sein können, und nichts, das sich nicht ändern ließe.

Lernen Kinder denn ohne Schulpflicht das, was wichtig ist ? Wichtig für wen? Für die Erwachsenen? Die Kinder werden das lernen, was aus ihrer eigenen Sicht wichtig zu lernen ist.

Die Verhältnisse werden sicher anders sein, wenn Menschen über ihr Denken selbst bestimmen können, und das ist nur für die zum Nachteil, die die Macht nicht teilen wollen. Das selbstbestimmte, von innen kommende Lernen ist ein wertvoller Schatz der Menschheit, der gehoben werden muss, wenn die anstehenden Probleme sinnvoll gelöst werden sollen.

Vielleicht wird die Post dann nicht mehr in einem Tag von Hamburg nach München befördert werden können – die Menschen werden selbst entscheiden, was ihre Lebensqualität ausmachen soll und was nicht.

 

 

Montag, 21. Juli 2025

Komm von der Mauer runter!

 
 

 „Es könnte doch etwas passieren!“ Wir sind besorgt, dass die Kinder zu Schaden kommen. Erwachsene sind für Kinder verantwortlich.

Sebastian balanciert auf der Mauer. Lina sammelt alte Flaschen. Manuel will Eis essen. Alexander fährt Rad. Jana klettert auf den Baum.

Die Verantwortung, die Erwachsene im Umgang mit Kindern übernehmen, beeinflusst das Erleben mit ihnen. „Komm von der Mauer runter!“ - „Lass die Scherben liegen!“ - „Nicht noch ein Eis!“ - „Fahr langsamer!“ - „Nicht so hoch!“ Die Angst davor, als unverantwortlich zu erscheinen, lässt die Erwachsenen zu Kindern so reden und mit ihnen umgehen, als seien sie nicht in der Lage, die Risiken ihres Tuns selbst einzuschätzen. Diese Angst lässt Erwachsene auf Kinder reagieren wie auf Noch-Nicht-Menschen. So, als seien Kinder unfertige und zur eigenen Verantwortung unfähige Wesen.

„Stimmt doch auch!“ Ich sehe das anders. All das, was Erwachsene veranlasst, aus Verantwortung einzugreifen, zu erklären, zu mahnen, zu verbieten - all das regeln die Kinder selbst, ohne Erwachsene, wenn sie unter sich sind. Sie tun es sinnvoll, in Abschätzung ihrer Möglichkeiten und der Realität ringsum. Und sie tun es täglich, viele Stunden lang.

Sie klettern allein auf der Mauer rum. Sie fassen diese Glasscherbe an und viele andere noch. Sie essen soviel davon und soviel hiervon. Ein Sturz mit dem Fahrrad hindert sie nicht, die nächste Runde zu drehen. Sie brechen sich den Arm, ohne dass die Welt untergeht.

Sie regeln ihre Dinge selbst, so wie sie es sich zutrauen und vor sich selbst verantworten. Und sicher kommt es dabei auch immer wieder zu Fehleinschätzungen - wie bei den Erwachsenen. Hören wir auf mit dem Auto zu fahren, wenn wir einen Unfall verursacht haben? Natürlich nicht, wir sagen: „Beim nächsten Mal passe ich besser auf.“ Und genau das können wir auch den Kindern zugestehen. Ohne für sie die Verantwortung zu haben, zu übernehmen - ohne ihnen ihre Verantwortung zu nehmen, wegzunehmen.

Die Kinder tun täglich ihre Dinge. Erwachsene lassen Kinder in ihren Vorstellungen aber nicht unter sich sein. Wenn wir an Kinder denken, dann immer in Bezug zu uns. Aber sie haben auch ihr eigenes Leben, mit einer eigenen Selbstverantwortlichkeit. Und wenn sie es dann mit uns zu tun bekommen, soll diese Selbstverantwortlichkeit einfach nicht mehr existieren?

Selbstverständlich ist sie dann noch da. Es ist merkwürdig, dass Erwachsene sie nicht wahrnehmen. Und ist es nicht seltsam, dass wir sofort mit unserer Verantwortung dahergestürmt kommen, wenn Kinder um uns sind? Warum? Wie gebannt bemerken wir nicht die Wirklichkeit der Kinder, in der ihre eigene Verantwortung einen festen Platz hat.

Was ist los mit den Erwachsenen? Weshalb verzichten wir darauf, Kinder als selbstverantwortliche Menschen zu sehen? Weshalb akzeptieren wir, dass Erwachsene verantwortlich für Kinder sind? Weshalb lassen wir uns in der Beziehung zu Kindern von dieser Verantwortung in Beschlag nehmen - die ursprünglich bei den Kindern selbst ist, die wir ihnen wegnehmen und uns aufbürden?

*

Der Text stammt, leicht verändert, aus meinem Buch "Kinder der Morgenröte", Münster 2004, S. 23ff