Meine Enkeltochter Klara frage mich, was ich beim „Herausfinden, was Kinder sind“ denn so gemacht habe. Ich erzählte es ihr. Mein Dissertationsprojekt über amicative (postpädagogische) Kommunikation mit Kindern war praxisbezogen. Hier sind sechs kleine Erlebnisszenen von Tausenden.*
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Es hat geregnet, die Wiesen und der Wald sind feucht. „Wer kommt mit spazieren?“ Moni (11) hat Lust. Wir ziehen durch den Wald. Ich lasse mir von ihr zeigen, wie sie dies alles erlebt. Sie führt mich durch den Wald und zu den Blumen. Und sie führt mich zu einer Art des Erlebens zurück, die bei mir in Vergessenheit geriet. Wir überqueren einen Bach, und es ist, als betrete ich verlorenes Land. Die Blume, die wir von dort mitbringen, wächst wieder in mir.
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Melanie (3) will Rad fahren. Sie hat ein Rad mit Stützrädern. Ich soll sie schieben. Ich fasse in die Mitte des Lenkers und tue es. Wir wandern so eine Dreiviertelstunde. Durch die Straßen bis zum Feld. Sie kennt sich aus. Sie sagt mir, wo es langgehen soll. Ich staune, dass sie so gut Bescheid weiß.
Ich mache eine Entdeckung. Sie will meine Schiebekraft, nicht meine Führung. Ich soll nicht lenken beim Schieben. Ich soll nur schieben. Immer wieder ertappe ich mich, dass ich drauf und dran bin, beim Schieben auch zu lenken. Zehn Zentimeter vor dem Gitter dreht sie den Lenker, und ich hatte mich schon zum Stoppen bereit gemacht.
Einmal kriegt sie die Kurve nicht hin. Ich sah es kommen und habe es geschafft, nicht einzugreifen. Sie sieht mich an - tja, Rückwärtsgang!
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Jessica (8) war ein paar Tage bei ihrer Tante in den Ferien. In dieser Zeit habe ich am Buch gearbeitet und auch etwas Aktuelles über ihre Schwester Diana (5) geschrieben. Als ich Jessica erzähle, dass Diana im Buch vorkommen wird, merke ich, dass sie auch gern vorkäme. „Leider warst Du nicht da“, sage ich.
Als sie nach Hause geht, denke ich nach. Jessica wäre auch gern im Buch. Warum nicht? Wo ist da das Problem? Ich kann doch tun, was ich will. Und ich kann mit Jessica so spielen, wie wir das wollen. Sie hat einen Wunsch, und ich kann ihn erfüllen. Ich nehme ein Beispiel aus dem Text und schreibe dies hier. Morgen werde ich sie damit überraschen.
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Die Zwillinge Yvonne (7) und Karina (7) hatte ich auf dem Geburtstag von Meike (8) kennengelernt. Eine Woche später bin ich bei Freunden und sehe sie wieder. Nachbarskinder. Ich repariere an meinem Auto rum. Sie kommen und helfen Rost abzuschmirgeln. Es ist schönes Wetter. „Wenn Ihr Lust habt, fahren wir ein bisschen raus“, schlage ich vor. Sie haben Lust, und ruckzuck fahren wir los. Ich sage meinen Freunden Bescheid.
Wir fahren zum Kanal und sehen den Schiffen zu. Ringsum sind Wiesen. Es ist warm und wunderschön. Sie erzählen von wichtigen Dingen und ich habe Zeit zum Zuhören. Sie werfen Steine ins Wasser, sammeln Blumen, malen Bilder in den Sand. Wir haben uns getroffen und sind losgefahren.
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Tanja (3) wohnt ein Stockwerk unter uns. Wir sehen uns gelegentlich. Heute ist sie nach oben gekommen und hat geklingelt. Ich mache auf. Sie hat einen Ball mitgebracht. Ich knie mich hin und sehe sie durch die Wohnungstür draußen im Treppenflur. Wir sehen uns an. „Hallo“, sage ich. Sie lacht. Sie kommt auf mich zu, bis zur Tür, und gibt mir den Ball. Ich rolle ihn ihr zu. Sie freut sich riesig, und wir spielen eine Viertelstunde. Dann wird sie gerufen und geht zurück.
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Heike (4) kommt zu mir auf den kleinen Berg, der von den Bauarbeiten noch da ist. Ich sitze dort in den Blumen und spiele Mundharmonika vor mich hin. Es ist Fete, Freunde haben mich eingeladen. Als es mir mal zu viel wird und ich einen Moment Ruhe brauche, gehe ich ein Stück abseits auf den Erdhügel.
Ich freue mich über Heikes Besuch. Sie setzt sich einfach neben mich und hört zu. Dann kramt sie im Sand. Ich mache sie auf Scherben aufmerksam und merke, dass sie es nicht als Verbot auffasst.
Später, als ich wieder bei den Erwachsenen bin, soll ich mal mitkommen. Aufs Feld. Sie zeigt mir einen wild bewachsenen Tümpel. Ich fühle mich geehrt. Auf dem Rückweg frage ich sie, ob sie mich führt, wenn ich die Augen zumache. Sie versteht und tut es. Ich spüre, wie ich ihr Schritt für Schritt mehr vertraue.
Als mir einmal ein Ast durchs Gesicht streift, fällt mir ein, dass sie ja so viel kleiner ist als ich. „Sieh mal ab und zu nach oben, damit ich mit dem Kopf nicht irgendwo anstoße“, sage ich. Als ich nach Hause muss, schenke ich ihr die Mundharmonika.
* aus meinem Buch „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“, Münster 2023, S. 235, 242, 247 f.