Montag, 8. Dezember 2025

Sauste den Baumstamm hoch

 

 

 

Neulich war eine Katze bei mir. Mein Besuch hatte sie mitgebracht. Kann man Katzen aus ihrem Zuhause mit auf die Reise nehmen? Was muten wir den Tieren zu, die bei uns leben, die uns anvertraut sind? Tja, wie immer: das kommt drauf an, auf dieses Tier, diesen Menschen, diese Umstände. Schon die anderthalbstündige Fahrt zu mir war ein Risiko – aber dieses Kätzchen war einfach gut drauf und hat die Fahrt genossen. Es hat also gepasst. Und bei mir war sie dann weiter gut drauf, hat alles erkundet und sich schließlich auf einen Stuhl gesetzt und geschlafen. Ich habe mich gefreut, dass sie mitgekommen war.

Mir geht die Frage durch den Kopf, was wir alles so mit unseren Tieren – die bei uns im Leben sind – anstellen. Ich bin jetzt bei den Haustieren. Was wir mit den „Nutztieren“ anstellen, vom Namen angefangen bis zu sonst was, mal abgesehen. Man muss sich eben auch immer wieder trauen, der Beziehung trauen. „Sie macht das schon mit, und wenn nicht – dann kann ich die Autofahrt sofort abbrechen und nach Hause fahren.“ Das Sich-Trauen und das der Beziehung trauen gilt ja auch generell, den Kindern und dem Partner gegenüber – und ist ein sehr sehr weites Feld.

Das Katzenfrauchen (auch so ein merkwürdiger Name) traute sich aber noch mehr. Sie hatte die Katzenleine mitgebracht. Die Katze bekam ein Geschirr umgebunden, daran dann die Leine. Wir wollten mit den Kindern in den Wald. „Die Katze kommt mit!“ Wie bitte? Eine Katze an der Leine? Und dann noch im Wald? Aber: Es war dann einfach wunderschön! Unser Kätzchen war auf Du und Du mit der Natur, hüpfte hierhin und dorthin, spielte mit den Ästen und dem Sand, sauste den Baumstamm hoch, soweit es mit der Leine ging.

„Aber man kann doch eine Katze nicht an die Leine nehmen“ geisterte irgendwie bei mir rum. Doch, man kann. Die Katze im Wald frei laufen lassen – kann man auch machen. wenn man sich traut. Mit dem Risiko, dass die Katze dann weg ist, zu ihrem und unserem Unglück. Das war die Grenze, mehr sollte es nicht sein.

Wie viel Grenzen setzen wir den Unseren? Wie viel Leinen habe ich für die Kinder und den Partner parat? Bei wieviel Freiheit wird mir unwohl? Und wie geht es den Kindern und dem Partner mit meinen Grenzen und Leinen? Gibt es da einen Leinenunterschied zwischen meiner Leine für die Katze und meiner Leine für einen Menschen? Klar doch! Ich lege doch keinen Menschen an die Leine! Ach wirklich? Es gibt sie nicht zu sehen, wer erlebt schon, dass ein Mann seine Frau an einer Leine durch die Gegend führt. Oder eine Frau ihren Mann. Oder ein Vater sein Kind. 

Aber es gibt sie eben, diese Leinen, nicht sichtbar, gewoben aus allem Möglichen: Angst, Vorsicht, Sorge, Macht, Liebe und so weiter. Und wie viele Leinen sind an mich angelegt, lasse ich mir anlegen? Konventionsleinen, Beziehungsleinen, Angstleinen. Von keine Jeans im Theater bis eheliche Treue. Also, diese Leinenthematik ist Alltag und wirkt im Hinter- und Untergrund. Bis es dann mal einen Aufstand gibt oder ein gutes Gespräch über die Einschränkungen in der Beziehung, und dann die eine oder andere Leine verschwindet.

Die Katze nahm die Leine so selbstverständlich hin. Sie hätte ja auch einen Anfall bekommen können. Tat sie aber nicht. Brave Katze! Braves Kind! Braver Mann! Brave Frau! Der Umgang mit der Leine und Freiheit des anderen ist ein sehr sehr weites Feld...

 

Montag, 1. Dezember 2025

Wenn ich schon getötet werden muss

 


Wenn ich schon tun muss, was meine Eltern wollen...“

Gleiche Augenhöhe geht über das Wie der Beziehung. Es geht um die seelische Botschaft. Das Durchsetzen auf der Handlungsebene wird deswegen nicht abgetan. Gelingt das sanft oder hart, freundlich oder unfreundlich, flexibel oder starr? Es geht ausdrücklich nicht um antiautoritäres Zurückweichen. Was muss, das muss. Das kann sanft oder hart passieren. Darüber hinaus kommt dann die seelische Frage nach der gleichen Augenhöhe.

Wenn ich mich schon durchsetze: Ich muss mich dabei nicht noch innerlich über das Kind stellen. „Du setzt Dich durch“, fühlt dann das Kind, „aber Du stellst Dich nicht über mich.“ Zum Verstehen hilft das Bild vom Bruder Büffel, den der Indigene erlegt. „Du tötest mich“, sagt der Büffel, „aber Du stellst Dich nicht über mich. Ein Weißer schießt mich ab und meint, er sei wertvoller als ich.“ Wie sind Eltern im Kinderzimmer unterwegs, wenn sie sich durchsetzen? Man kann sich den Indigenen zum Vorbild nehmen.

Aber macht das für das Kind überhaupt einen Unterschied? Wenn es am Ende doch tun muss, was die Eltern wollen? Um im Bild zu bleiben: „Wenn ich schon getötet werden muss“, sagt der Büffel, „dann lieber von einem Menschen, der meine Würde sieht und sich innerlich nicht über mich stellt. Ich möchte nicht zu meiner Niederlage noch obendrein erleben, dass ich nicht so wertvoll sein soll wie der, der mich besiegt. Ich wünsche mir, dass der Jäger mich als gleichwertig erkennt, mich auf gleicher Augenhöhe sieht. Denn das Universum hat uns alle mit einer Würdekrone ausgestattet.“ 

Kinder sind genauso unterwegs: „Wenn ich schon tun muss, was meine Eltern wollen ...“

 

Montag, 24. November 2025

Kann nur etwas Gutes werden, wenn


 

 

Elternabend

 

 Dr. Hubertus von Schoenebeck

Kinder und Grenzen

Durchsetzen ja – Herabsetzen nein

Vortrag mit Gespräch



Mir ist schnell klar geworden, dass Kinder Personen mit ihrer eigenen Sicht der Dinge sind. Das ist sehr herausfordernd – und kann nur etwas Gutes werden, wenn ich meine Grenzen klar mache. Unmissverständlich klar mache: ein Nein ist ein Nein.

Der Widerstand kommt prompt. Was dann? Ich lasse mir von den Kindern nichts gefallen und setze mich durch. Wie? Kommt drauf an, das besprechen wir. Wut und Tränen? Sind dabei. ABER: Ich bedränge die Kinder nicht noch obendrein mit dem ewigen „Sieh das ein, ich habe recht!“.

Die missionarische Besserwisserei, die zum Durchsetzen immer dazukommt: Nicht mein Ding! Denn so etwas erleben alle Kinder als seelischen Übergriff und als Anmaßung. Und darauf reagieren sie erst recht mit Trotz und Wut: „Ich muss gar nichts!“ Nein, ich setze mich zwar äußerlich klar durch, aber ihre Würde taste ich nicht an. Durchsetzen ja – herabsetzen nein. Der Abend lädt Sie herzlich ein, in der schwierigen Grenzthematik einmal auf neue Gedanken zu kommen und durchzuatmen.

Dr. phil. Hubertus von Schoenebeck. Ich habe als Lehrer gearbeitet, bin Sachbuchautor zu Erziehungsfragen und seit über 30 Jahren in der Familienbildung tätig. Ich habe erwachsene Kinder und Enkelkinder. Ich halte einen kurzweiligen Vortrag und freue mich auf Ihre Fragen.

 

Montag, 17. November 2025

Wie oft lügst Du am Tag?

 

 

„Wie oft lügst Du am Tag?“ Mich hat die Frage überrascht. Nicht wegen des Fragers, sondern wegen der Frage. Man lügt doch überhaupt nicht oft. Und schon gar nicht mehrmals am Tag – was so eine Frage ja impliziert. Jedenfalls dachte ich das. Dass nur selten gelogen wird. Aber der Frager hat ja wohl was anderes vor Augen.

„Überhaupt nicht“, sage ich. „Vielleicht einmal in 10 Jahren“. Oder auch öfter? Ich denke nach, finde aber nichts. Na ja, vielleicht blende ich da ja auch was aus. Egal. Aber ich nehme die Frage auf und sinne darüber nach. Wie ist das mit der Lügerei? 

Wer das tut, tun will, tun muss – sein Ding. Sogar sein gutes Recht. Gehört jemand die Wahrheit? Wir gehören uns selbst, und damit ist es auch unser Ding, wie wir mit der Wahrheit umgehen wollen. Und da gibt es eben Kleinlüger, Großlüger, Seltenlüger, Viellüger, Lügenbolde. Da ist nichts zu verurteilen. So etwas findet statt. Es will natürlich damit umgegangen sein.

Wie geht der Lügende damit um? Schlechtes Gewissen? Gutes Gewissen? Aus der Not heraus. Aus der Bestimmerei heraus. Wegen des Vorteils. Wegen der Beschämung. Wegen der Angst. Wegen der Verachtung. Wegen des Schmerzes. Wegen der Sehnsucht. Wegen der Liebe. Wegen viel. Die Wegens können edel, weniger edel oder gar nicht edel sein.

Ich mag hier im Nachdenken das Wort Lügner nicht, es ist so ungut besetzt, und ich bin nicht im Unguten, wenn ich über jemanden nachdenke, der lügt. Deswegen sage ich „Lügender“. Ich schwinge nicht ins Verurteilen, ich schwinge ins Verständnishaben. Nicht, weil ich viel lüge, tu ich nicht. Sondern weil ich das für angemessen halte. Wer lügt, zettelt etwas Gutes an – klar, für sich. Die Lüge ist ein Geschöpf des Guten, der Liebe. Die man sich selbst gibt. Die einem zusteht.

Dass dies Leid und Ungutes bewirken kann, eher: wird, bleibt mir ja dabei nicht verborgen. Ich vergesse aber nicht die Quelle der Lüge. So wie mir auch das Leid der Kuh nicht verborgen bleibt, die ich töte, um zu essen. Ich töte wegen meines Vorteils, ich lüge wegen meines Vorteils. Durchs Leben gehen und meine Vorteile realisieren, finde ich richtig, und anders geht es nicht. Geht es doch? Ohne Töten kein Leben. Ohne Lügen kein – ja was? Ohne Lügen kein Leben. Lässt sich das vergleichen, übertragen?

Mit Lügen kein Leid – auf meiner Seite. Wohl Leid auf Deiner Seite. Ist das einfach nur dem Egoismus das Wort geredet? Egoismus passt beim Töten der Kuh nicht, da gilt so etwas wie unabdingbar, nötig, wenn ich nicht esse, sterbe ich. Beim Lügen gilt anderes? Sehe ich nicht so. Wenn die Lüge nicht unabdingbar, nötig wäre, würde sie ja nicht kommen. Dann wird die Wahrheit gesagt. So einfach ist das!

Und wie geht es mir, wenn ich herausfinde, dass ich angelogen wurde? Ganz klar: Ich gehe nicht durch das Verurteilungs-Tor und tummele mich nicht auf dem dunklen Feld dahinter mit all den zugehörigen Seltsamkeiten: Schuldzuweisung, Empörung, Beleidigtsein, Runterputzen, Enttäuschung, Ärger, Groll, Wut, Hass, ach was weiß ich. Tore, die ins Dunkle führen, mag ich sowieso nicht, und sie liegen mir nicht.

Also: was ist, wenn ich angelogen wurde? Da bleib ich cool. Erst mal „nehm ich zur Kenntnis“ (wie das so schön neutral heißt), dass es anders ist als bis grad noch gedacht. Ich korrigiere meine Wirklichkeit, sortiere das um. Mir ist sofort klar, dass die Lügerei nicht grundlos stattgefunden hat, dazu fließt ein Nachsehen (sehe Dir das nach). Und eine Freundlichkeit, weil ich denke, dass es dem Lügenden nicht gut geht. Wenn es ihm bei seiner Lügerei gut geht: auch gut. Mich regt das alles jedenfalls nicht auf. Ich frage mich zügig, wie es weitergeht. Mit der neuen Information, die jetzt als neue Wahrheit neben die alte Wahrheit tritt, die ja eine Nicht-Wahrheit sein soll, Lüge eben.

Will ich weiter mit dem Menschen zu tun haben, der mich angelogen hat? Das will gut bedacht sein. Ich mache ja keinen Vorwurf, nur die Verlässlichkeit ist angekratzt oder weg. Mein Vertrauen, von Dir die Wahrheit zu bekommen, ist beschädigt. Es kommt ganz darauf an, wie meine Beziehung zu Dir überhaupt ist. Wie viel mich Deine Unwahrheit nervt, Du mich nervst. Vielleicht instrumentalisiere ich Deine Lüge (nicht bewusst, aber passiert): sie kommt mir recht, weil ich meine Beziehung zu Dir eh runterfahren will. Da ist dann kein Ärger, sondern Abwendung, keine Lust auf so etwas, keine Lust auf Lügenmärchen.

Ja, oder es macht mir eben nichts aus, ich sehe Deine Not oder Unverfrorenheit, Deine Sorge, dass ich Dir es übelnehme und weggehe. Wenn ich Dich genug mag, lasse ich mich von Deinen Lügenmärchen nicht wegspülen. So bist Du halt. Jetzt grad mal. Oder auch öfter. Es ist schon mein Job, auf Deine Lüge zu reagieren, den mache ich dann auch. Ich freue mich über Dich, auch über Deine Lügenmärchen: so kann es schon kommen. Wenn es nicht überhand nimmt und die Frage hervorbringt: „Wie oft am Tag...“


 

 

Montag, 10. November 2025

Dass es nach der Nagelprobe einen erleichterten Umschwung gibt



Amicative Menschen machen sich selbstverständlich auch Gedanken über das Verhalten und die Entwicklung ihrer Kinder. Diese Gedanken, diese Sorge, dieses Kümmern kommen von innen. Sie kommen nicht aus einem Sollen, einer Norm (was man als gute Eltern tun sollte). Sie kommen nicht aus Verantwortung für das Kind, sondern aus Verantwortung für sich selbst. Diese Gedanken sind Ausdruck des Kümmerns um sich selbst. „Meine Liebe zu mir umfasst auch Dich, Kind. Und deswegen mache ich mir meine Gedanken, auch um Dich.“

Die Verantwortung für Kinder wird nicht deswegen aufgegeben, weil das gut für die Kinder ist. Dann wäre man letztlich doch für die Kinder verantwortlich und landete bei der skurrilen Position, dass man aus Verantwortung für Kinder diese Verantwortung aufgibt. Nein: Man gibt die Verantwortung für Kinder deswegen auf, weil das gut für einen selbst ist.

Ich kann meine Einstellung – in Kindern selbstverantwortliche Wesen zu sehen – nicht rückgängig machen und will dies nicht. Ich kann und will nicht mehr jemand sein, der sich für andere verantwortlich fühlt - weil dies ein jeder Mensch selbst ist, auch ein Kind! Mich für einen anderen verantwortlich zu fühlen würde bedeuten, ihn psychisch zu überfallen und damit zu entmündigen. In bester Absicht. Aber Kinder haben wie alle Menschen eine eigene, souveräne innere Welt. Dies erkenne ich. Und dieser meiner Erkenntnis und Wahrheit, dieser meiner Wirklichkeit begegne ich mit Achtung. Dies bin ich mir schuldig.

Damit hört ein Kümmern und Sorgen und Nahsein und Dasein nicht auf. Wer sich nicht für Kinder verantwortlich fühlt – weil sie das selbst sind – , der mutiert nicht zum Monster. Ich kümmere und sorge mich, bin nah und da nur eben nicht aus Verantwortung für Kinder – weil sie das selbst sind – sondern aus Verantwortung mir gegenüber, aus Verantwortung für mich.

Das Kümmern und Sorgen kommt gern mit der „Verantwortung“ daher: Kümmer-Verantwortung. Die ich übernehme, um anderen beizustehen und zu helfen. Die Kümmer-Verantwortung ist Alltag und banal. Hier geht es aber nicht um die Kümmer-Verantwortung, sondern das übergriffige, missionarische, adultistische, pädagogische „Ich bin für Dich verantwortlich, weil Du das nicht selbst bist.“

Wie verhalten sich die Kinder, wenn man aufhört, sich für sie (missionarisch, pädagogisch) verantwortlich zu fühlen? Meine Erfahrung ist, dass es nach einiger Zeit des erstaunten Aufmerkens und der Nagelprobe einen erleichterten Umschwung gibt. „Endlich verstehst Du! Endlich hörst Du auf, meine Innere Welt nach Deinem Bild zu formen.“


 

Montag, 3. November 2025

Und so wird es ja auch kommen

 


Eine gute Freundin von mir verschwand von jetzt auf gleich im Krankenhaus. Nach schneller Diagnose wurde sie sofort operiert, es war knapp. Also: Sie ist noch da, aber beinah wäre sie weg gewesen, fort aus ihrem und aus meinem Leben. „Und plötzlich bin ich weg“, sagt sie humorvoll zu ihrem Beinahe-Weg. Soweit kam es nicht. Aber sie hat doch irgendwie recht, so kann es ja kommen, und so wird es ja auch kommen. Wann weiß keiner so genau. Aber es ist schon ein Thema.

Was bleibt eigentlich, wenn unsereins plötzlich weg ist? Ich versuch das mal aus dem Futurum 3 anzusehen. Wie es denn sein gewesen hat sollen passiert sein. Aus der Überposition (ich bin weg und sehe zurück) auf das schauen, was dazu jetzt zu sagen ist. Erst mal stellt sich da bei mir der Humor ein. Grad noch da – dann plötzlich weg. Ist schon irgendwie komisch. Es macht einem dann ja gar nichts mehr irgendwas aus: man ist ja weg.

Irgendwie ein beruhigender Gedanke. Für nichts mehr zuständig, kein Knöllchen mehr, kein Ärger mit diesem und jenem. Klar, auch die schönen Dinge des Lebens sind dann weg, so eine rote Rose wie die oben gibts dann nicht mehr. Aber was soll der Trübsinn. Weg ist weg.

Den Dableibenden, den „Hinterbliebenen“ wie es so schön heißt, kann ich da nur zuzwinkern: freut Euch über die Rose, solange Ihr sie seht. Ja, seht all das Schöne um Euch herum, es ist da, der Sonnenaufgang, der Sonnenuntergang, all das Unendliche dazwischen, und der Sternennachthimmel. Ach tausenderlei. Das schelmische „Plötzlich bin ich weg“ meiner Freundin birgt ja eine tiefe Wahrheit und wichtige Botschaft: Sieh Dich um, sieh, wo Du bist: Blauer Planet Erde, ein wunderschöner Edelstein im Universum, und Du bist darauf unterwegs. Einfach grandios vor dieser monumentalen Kulisse des Kosmos, ein aus vollem Herzen kommendes „Ja“ ist hier angesagt.

 

Montag, 27. Oktober 2025

Weil sie keiner zur heiligen Kuh macht

 

 

Im Zusammenhang mit „Kinder und Grenzen“ wird meist darüber nachgedacht, welche Grenzen den Kinder gezogen werden sollten. Mit geht es aber jetzt einmal um die Grenzen, die Kinder (wie alle Menschen) um sich selbst haben. Wenn Grenzüberschreitungen den Kindern gegenüber passieren, und wie man das verhindern kann.

Wenn man es merkt, dass Kinder auch Grenzen haben, ist man schon den ersten Schritt gegangen. Natürlich haben sie viele Bereiche, wovor ihr Stoppschild steht. Wenn man jedoch meint, dass Kinder (noch) keine vollwertigen Menschen sind, sondern erst richtige Menschen werden, kommt man kaum auf die Idee, ihnen richtige individuell-spezielle Grenzen zuzubilligen. Aber natürlich: jedes Lebewesen hat seine Grenzen. Allgemeine und spezielle.

Die allgemeinen Grenzen der Kinder werden heutzutage ganz gut bedacht: Kinder dürfen nicht in zu dünne Zonen von Liebe, Achtung, Würde, und äußeren Lebensumständen (Essen, Kleidung, Wohnen usw.) geraten.

Es geht mir aber um die speziellen Grenzen: um die Stoppschilder dieses Kindes, dieses einzelnen Menschen. Jeder hat da andere, manche/viele sind gemeinsam.

Klaus (5) ist ein Acht-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind: Es macht keinen Sinn, von ihm zu verlangen, um Sieben ins Bett zugehen.
Ulrike (3) ist im Gummibärchen-Fan-Club: Es macht keinen Sinn, von ihr die Herausgabe der Club-Karte zu verlangen.
Moritz (9) ist ein Ich-Räume-Nicht-Auf-Kind. So geworden im Laufe der Jahre, bei diesen Eltern, bei dieser Oma. Es macht keinen Sinn, darauf zu bestehen, dass erst aufgeräumt wird, bevor ...
Monika (14) raucht, und zwar eine Menge: Ihr das Rauchen zu verbieten macht keinen Sinn. Doch? Was passiert, wenn sie raucht, weiß sie längst. Aber sie hat ihre Grenze eben anders gezogen. Zigaretten gehören zu ihr, zu ihrem Selbstbild. Wie bei ihrer Tante. Und dem Klassenlehrer. Ihr die Zigaretten zu verbieten, missachtet ihre Grenze: missachtet sie.
Die Beispiele lassen sich unendlich fortsetzen.

Eine Grenzüberschreitung ist eine Grenzüberschreitung. Da sollte man sich nichts vormachen. Unzulässig aus der Sicht des Betroffenen. Aber ich sage nicht, dass man nun alles hinnehmen soll: Hinnehmen, wie mein Kind zu wenig Schlaf bekommt (meine Grenze „Er braucht aber 12 Stunden Schlaf“ wird missachtet). Hinnehmen, wie der Süßkram die Zähne kaputtmacht (meine Grenze „Sie soll gesunde Zähne haben“ wird missachtet), usw.

Ich will etwas anderes: Wenn einem präsent ist, dass die Kinder da vor einem auch Grenzen haben, berechtigte Grenzen – dann wird man etwas einfühlsamer, umgänglicher, stressfreier in dieser Frage. Ich habe das immer dabei gehabt, dieses Wissen: dass Kinder vollwertige Grenzen-Menschen sind. Und dass Fingerspitzengefühl dazugehört, mit ihren Grenzen umzugehen. Wie bei „allen“ Menschen und Lebewesen (ich halte keine Katze gegen ihren Willen fest, ich hänge mich nicht an einen zu dünnen Ast).

Wenn ich eine Grenzüberschreitung nicht vermeiden will (ich verstoße gegen Deine Grenze, damit dies nicht mit mir passiert), dann ohne Lüge. „Ich weiß, dass ich Deine Grenze missachte. Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Ohne Tricks „Sieh das ein. Es ist besser für Dich“.

Menschen haben vielfältige Liebenswürdigkeiten oder Behinderungen (beides ist dasselbe, je nach Perspektive): lila Haare, Gurken zum Frühstück, krank im Hirn, zu kurzes Bein, Bus statt Auto, Auto statt Bus.

Es macht keinen Sinn, von jemandem zu verlangen, er soll sein Bein nachwachsen lassen. Es macht keinen Sinn, einen Hund zum Unterricht zu schicken, damit er Staubsaugen lernt. Es macht keinen Sinn, von der Schwerkraft zu verlangen, dass sie aufhört, damit ich fliegen kann. Realitäten. Kennen wir. Können wir mit umgehen.

Klaus geht um acht ins Bett. Ulrike isst Gummibärchen. Moritz räumt nicht auf. Monika raucht. Realitäten. Kennen wir. Können wir mit umgehen. So einfach ist das.

Was will ich wirklich? (Die Praxisfrage der Amication!) Mit diesem Kind leben? „Ja.“ Es ist ein Acht-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind und kein Sieben-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind. „Es soll sich ändern.“ Soll sein Bein nachwachsen? „Das ist nicht zu vergleichen. Niemand muss morgens Gurken essen.“ Wirklich? Wer sagt das? Vergleicht doch. Was passiert, wenn man vergleicht? Geht die Welt unter? Was steht auf dem Spiel?

Ich habe immer gemerkt, dass Krieg oder Frieden auf dem Spiel stehen. Natürlich kann ich in den Krieg ziehen, und ich habe auch oft gewonnen. Und oft verloren. Aber: Ich muss nicht in den Krieg ziehen. Nicht für eine Stunde eher ins Bett, für noch gesündere Zähne, für 30 Minuten Aufräumen, für körpergesund und dafür seelenkrank.

Ich habe mich eingependelt im Grenzland, wo die Grenzen aufeinander treffen. Und da ich über mich bestimme, bin ich auch der Souverän, der die eigenen Grenzlinien hin- und herschieben kann. Das ist kein Nachgeben! Das ist Augenzwinkern, Halb-So-Wild, Friede, Harmonie. Es sieht so aus, als wäre ich großzügig, einfühlsam, tolerant.

Es ist eine andere Quelle: Ich billige mir alle möglichen Liebenswürdigkeiten zu, ich liebe meine Macken – und das kann ich auch den anderen lassen. Auch den Kindern. Ich weiß, wie gut das tut. Ich habe Grenzen, die flexibel sind. Je nachdem. Und wenn sie hart sind, dann ist es eben so ein Tag. Wir nehmen uns unsere Grenzen nicht so übel, weil sie keiner zur heiligen Kuh macht.


 

Montag, 20. Oktober 2025

Und sie atmet durch und läuft erleichtert auf mich zu

 

 

Wir sind im Wald. Klara (6) und Kolja (4) legen gelbe Blätter auf dem Waldboden zu Linien und Kreisen, sie malen mit den Herbstblättern. Es sieht nicht nach Natur aus sondern nach Kultur. Nach Kunst. Kunst im Wald.

Die Kinder spielen. Ist Kunst Spielen, verspielt? Ich habe immer mitbekommen, dass Kunst mit einem hohen Anspruch daherkommt. Picasso, Rembrandt, Beethoven, Mozart – das ist Hochkultur, Kunst. Die Wasserfarbenbilder der Kinder, das Graffiti an der Mülltonne: das ist keine Kunst.

Wie relativ darf es sein in der Kunst? Wann kommt der Kitsch um die Ecke? Wann der Unsinn? Woran lässt sich erkennen, ob es Kunst ist oder nicht? An den Unis wird Kunst gelehrt, es gibt Kunstschmiede und Kunsthandwerk, Kunsthonig und Kunstseide. Es gibt Künstler und gekünstelte Sprache, Kunstauktionen und Kunstfälscher. „Ist doch keine Kunst“ und „Jeder Mensch ist ein Künstler“.

Was soll ich davon halten? Von dem ganzen Tamtam, der um die Kunst gemacht wird? Es nervt mich, wenn irgendein objektiver Anspruch im Spiel ist, sowieso, aber auch bei der Kunst. Im Kunstunterricht in der Schule bekam ich für ein Bild nur eine Drei, und dabei fand ich mein Bild super und voller Ideen. Spinnt er, der Kunstlehrer? Sein Sohn war in meiner Klasse und bekam für alles, was er ablieferte, eine Eins, immer! Da ging ich auf Distanz zur Kunst.

Das war doch alles eine absurde abgekartete Sache, irgendwelche Schriftgelehrten legten fest, was Kunst ist und was es eben nicht ist. Kirchenfenster, documenta, Mona Lisa: Ja was denn nun? Kunst ist offensichtlich Kunst. Da weiß man Bescheid, und die Herren und Damen Künstler sowieso.

Echt jetzt, da soll er doch malen. Oder dichten. Oder komponieren, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Als sein eigener Meister. Und dann kann er mir zeigen oder vorführen, was Sache ist. Gefällt mir, oder nicht. Und fertig. Was soll das Gelaber von „Kunst“ dabei?

Ich finde das seltsam übergriffig, wenn jemand seine gebastelten Dinge als Kunst rüberbringt. Mit einem hohen Anspruch versieht. Wenn sie in Altamira ihre Tierchen an die Wand bringen: Ist ihr gutes Recht, sind ihre Erinnerungen, Visionen, Botschaften. Das kann ich respektieren, so wie ich den Menschen respektiere und achte, der damit unterwegs war. Aber in Ehrfurcht erstarren? Da macht jemand sein Ding. Gefällt mir, Beifall klatschen und staunen. Oder gefällt mir eben nicht. 

Wie immer bin ich auch in Sachen Kunst mein eigener Chef und lass mich nicht ins Bockshorn jagen. Es ist in der Kunst so wie sonst auch: Entweder spielt sich das alles in einem Oben-Unten-Raum ab mit objektiven Maßstäben. Oder es bleibt in der postmodernen Welt, in der nichts über dem anderen steht und alles gleichwertig ist. Mit subjektiven Vorlieben und Unlieben.

Klar ist der eine geschickter mit der Hand und dem Kopf als der andere. Und wenn es mir gefällt, höre ich gern zu und sehe ich gern zu. Ich mag klassische Musik, impressionistische Bilder, Blätter auf dem Waldboden. „Spiel mit mir“ sagen die Töne, die Farben, die Blätter. Es ist ein leichtes und heiteres Geschehen. „Mach mit“ rufe ich der Kunst zu, und sie atmet durch und läuft erleichtert auf mich zu. „Du erstarrst nicht in Ehrfurcht vor mir?“ „Nein“, sage ich. „Endlich“ antwortet sie. „Na klar doch“, sage ich, „und was machen wir heute?“


 

Montag, 13. Oktober 2025

Die mit ihrer Wucht im Dunkeln liegt

 

 

Ich bin im Dunkeln mit den Kindernzum Geocachen unterwegs. Wir suchen eine versteckte Dose mit Hilfe von Koordinaten. Es ist ein Internetspiel, das draußen umgesetzt wird. Wir suchen also, diesmal im Bürgerpark. Der Wachdienst hat uns erspät, kommt heran: Was machen Sie da?“

Das ist schon eine seltsame Anmutung. Strecke ich dem Mann des Wachdiensts die Zunge raus? Was hat der mich zu fragen, uns im Spiel zu stören? Die Antwort „Wer sind Sie denn?“ und „Was geht Sie das an?“ kommt hoch, aber ich stopfe sie wieder runter. Ich erkläre ihm freundlich, was wir hier tun. Er hört zu, seine Harschheit verfliegt, „Dann viel Erfolg.“ Wir sollen den Park verlassen, er hat schon geschlossen.

Wie oft fragen wir die Kinder, was sie da machen? Oft. Wie übergriffig ist das eigentlich? Wie kommen sich die Kinder vor? Ertappt? Überprüft? Geht uns das etwas an, was ein Kind macht? Wir sind da in einer Selbstverständlichkeit unterwegs. Wir bekommen mit, was die Kinder machen. Und wir fragen nach. Einfach und ungefragt.

Ich denke über die Balance nach, die so eine Fragerei und Ausfragerei in sich tragen. Big Brother oder Ausdruck unserer Liebe? Die Kinder sollen nicht zu Schaden kommen. Die Dinge, mit denen sich die Kinder beschäftigen, sollen nicht zu Schaden kommen. Die Familienregeln sollen auch nicht zu Schaden kommen. Die moralischen und gesellschaftlichen Benimme auch nicht. Oh, là, là. Was es da nicht alles zu zerdeppern gibt. Was es da nicht alles aufzupassen gibt.

Muss ich Auskunft geben, wenn mich jemand fragt, was ich mache, was ich da mache? Muss ich nicht. Müssen die Kinder das? Tja – irgendwie schon. „Zeig her"“, „Mach den Mund auf“, „Was hast Du da?“, „Wohin willst Du?“ Und so weiter und so fort. Wem gehören die Kinder, ihr Tun und Lassen? Ab wann wird es unfreundlich und unerfreulich mit unserer Einmischung?

Der Wachdienst stößt mich auf dieses Thema. Gibt mir zu denken. „Was machst Du da?“ will sensibel gehändelt werden. Ich bin nachdenklich. Die harschen Töne nehme ich dem Wachmann nicht übel. Er hat mir eine Tür gezeigt, die mit ihrer Wucht im Dunkeln liegt. Und die ich jetzt sehe und mit neuer Vorsicht öffnen oder einfach geschlossen lassen kann.

 

Montag, 6. Oktober 2025

Ich ertrage sie nicht, ich trage sie

 

 

Klara (6) und Kolja (4) sind zu Besuch. Alles läuft gut, doch dann will Kolja auch mal den Leuchtstab haben, den Klara hat. Aus meiner Sicht berechtigt, Klara spielt damit seit 10 Minuten. Koljas Bitte wird nachdrücklicher, Klara rückt ihn nicht raus. Es kommt zum Streit. Lauter Streit, Tränen.

Soll ich intervenieren? Das „Kolja ist jetzt auch mal dran“ ist da, es ruft mich auf. Aber ich will das nicht von mir aus tun. Fände ich irgendwie unpassend, unhöflich. So eine Intervention sagt für meine Ohren im Subtext: „Ihr könnt Eure Konflikte nicht allein lösen. Ihr seid da unzuverlässig. Nicht vertrauenswürdig. Unfähig. Kinder eben, die das noch nicht können.“ Ich wäre die Ordnungsmacht. Meine Intervention käme mir übergriffig vor.

Lasse ich die Kinder im Stich? Bin ich herzlos, unsensibel? „Du kannst doch nicht einfach nur zusehen, wenn sie sich streiten und nicht weiterwissen."“ Das hör ich schon. Doch ich sehe nicht nur zu. Ich sehe zu ohne „nur“. Ich bin ja da, und sie sehen mich. Ich schicke Freundliches, Anteilnahme. Ich schicke keine Ungeduld, Vorwurf, Grummel. Und ich bin ja da, wenn sie mich zu Hilfe rufen sollten. Und auch ein „Soll ich Euch helfen?“ ist schon viel zu viel Einmischen, stößt sie aus ihrer Konzentration aufeinander.

Nein, ich trage ihren Streit, ihr Geschrei, ihre Tränen. Ich ertrage sie nicht, ich trage sie. Und all die vielen üblichen Möglichkeiten, die an mich heranwabern, schicke ich weg, auch freundlich und gelassen. Möglichkeiten: Den weinenden Kolja auf den Arm nehmen, Klara ins Gewissen reden, „Wenn ihr Euch nicht einigt, verschwindet der Leuchtstab mal für eine Weile“, Ablenkungsmanöver starten, sie rausholen aus der Situation („Wir gehen jetzt in den Wald“), Thematisieren Streit und Gerechtigkeit, usw.

Ich habe Geduld, krame in der Küche weiter rum. Klara behält den Stab, aber auch sie hat Tränen in den Augen. Es wird ruhiger, es wird still. Dann höre ich an ihren Stimmen, dass sie sich nicht mehr Gram sind, sie verhandeln irgendetwas, dass nicht mit dem Leuchtstab zu tun hat. Sie kommen zu mir, suchen meine Nähe, und wir besprechen, ob wir rausgehen. Der Stab in Klaras Hand hält die Klappe.

Einen Satz sage ich ihnen aber doch. Ich habe ihre Gesichter beim Streit gesehen. „Wir tun etwas Ungehöriges.“ Beschämtsein, Schuldgefühl. Schnute, Blick auf den Boden. Ich sage ihnen: „Bei mir könnt Ihr auch streiten. Das ist ok. Da gibt es keine Schimpfe.“ Mir liegt daran, ein Pflaster zu kleben, ein Trostbonbon zu geben, Sonnenstrahlen zu schicken.

Und ich freue mich: Ich habe sie nicht aus ihrer Balance gestoßen, ich habe ihre Souveränität nicht angetastet. Ich habe den Pfad ihrer Würde nicht verlassen: „Auch wenn Ihr streitet und schreit und Tränen fließen – Ihr seid Menschen mit einer Würdekrone.“ Ich weiß aber auch, dass ich das nur kann, weil mich ihre Töne, Emotionen, Kinderbotschaften, Signale aus meiner eigenen Kindheit nicht verwirren, zum Intervenieren drängen.