Montag, 9. Januar 2023

Wie kommen unsere Kinder mit der pädagogischen Welt zurecht?

 


Wie kommen unsere Kinder mit der pädagogischen Welt zurecht? Nun, sie werden in unserem Haushalt groß. Hier, auf der Insel der Seligen, existiert die erziehungsfreie Welt von Mama und Papa. Aber kaum machen die Kinder die Wohnungstür auf, schon schallt es durch das Treppenhaus anders.

Die Mutter der Familie von nebenan ist erzieherisch unterwegs. Ihre Emotionen und Schwingungen sind gänzlich verschieden von dem, was unsere Kinder aus ihrem Nest kennen. So ist es! Drinnen ist es so, draußen ist es anders.

Die Kinder werden in zwei Welten groß. Und da sie das von Anfang an mitbekommen, verwirrt sie das nicht, sondern es ist ihre Realität. Zu Hause so, woanders anders. Sie können das handhaben. Eins aber ist klar: Von den Herabsetzungstönen, Schimpfkaskaden, Schuldzuweisungen der pädagogischen Welt draußen stecken sie sich nichts an.

Sie wissen, dass die anderen so drauf sind. Dass sie meinen, recht zu haben und Kinder belehren und herabsetzen zu können. Aber das ist deren Ding, unsere Kinder können ihnen das lassen. Es trifft sie nicht. Ihr Schutzmantel ist gewirkt aus dem verlässlichen Achtungskontinuum ihres Zuhauses.

»Wieso habt Ihr Euch die Hände noch nicht gewaschen?!« Tante Meier schimpft. Unsere Kinder sehen sich an. »Was hat sie denn nur? Wieder Rückenschmerzen?« Sie sind nicht gekränkt und fühlen sich nicht herabgesetzt. Sie sind offen für das, was bei Tante Meier dahintersteckt, wenn sie sich ärgert.

Sie sind voller Empathie. Empathie, die in ihnen lebt, weil sie von den wichtigen Personen ihres Lebens – ihren Eltern und deren Freunden – nicht in ihrem Wertgefühl, ihrer Selbstliebe und Selbstkraft gestört werden. »Ist schon gut, wir waschen uns die Hände«, eine leichte Antwort. Und Tante Meier ist zufrieden.

Unsere Kinder kommen in den beiden Welten gut zurecht. Und da sie einfühlsam und freundlich sind, werden sie auch von den erzieherischen Erwachsenen gemocht. Sie sind gerne gesehen in den Familien ihrer Freunde, im Kindergarten, der Schule, der Verwandtschaft.

Von ihren Alterskameraden ganz zu schweigen. Da ist es so, dass die anderen Kinder, denen der Erziehungsgewittersturm täglich um die Ohren braust, erstaunt und begeistert sind, dass sie auf Kinder treffen, die so ganz andere Eltern haben. Und sie kommen gerne zu uns zu Besuch.

»Keine Hausaufgaben gemacht? Wie wollt Ihr denn versetzt werden?!« Der Lehrer brüllt die Klasse an. Alle Kinder ducken sich. Sie kennen das, Alltag rauf und runter: Schimpfe, nichts Neues. Die Kinder sehen vor sich hin, sind gebannt. Sie warten, dass er mit seiner Strafpredigt aufhört.

Mein Sohn richtet sich auf, ist erstaunt, sieht nach vorn, auf den Lehrer. »Was hat er denn nur? Schlecht geschlafen? Krach mit seiner Frau?« Die Schimpfe des Lehrers prallt an seiner Selbstkraft ab, er ist nicht getroffen und gebannt. Seine Selbstachtung erreicht der Lehrer nicht mit der Schimpfe.

Mein Kind weiß, dass es jetzt nichts tun kann, der Lehrer ist viel zu sehr in Rage. Aber nach dem Unterricht, als die Pause beginnt und der Lehrer noch am Lehrertisch sitzt, geht mein Sohn nach vorn und legt ihm freundlich die Hand auf den Arm: »Herr Müller, das schaffen wir schon mit der Versetzung.«

Auf dem Elternabend erzählt mir Herr Müller davon. »Was haben Sie für ein nettes und gut erzogenes Kind.« Ich sage dann nichts dazu. Die Kinder sind ja gerade so, weil sie nicht erzogen werden, nicht durch Erziehung gestört werden und sich ihre Empathie ungehindert entfalten kann. Es bringt aber nichts, einem Menschen, diesem Lehrer, der erzieherisch unterwegs ist, davon etwas zu erzählen. Es sei denn, er ist offen für erziehungsfreie Ideen. Das muss man jeweils sehen.