Das Baby ist geboren, liegt neben der Mama und ruht sich aus. Aber irgendetwas stimmt nicht. »Mama, Papa, irgendetwas stimmt nicht.« »Hast Du Hunger?«, fragt die Mama. »Nein, das ist es nicht.« »Ist Dir kalt? Ich hole noch etwas zum Zudecken«, sagt der Papa. »Nein, das ist es auch nicht. Es ist etwas Psychologisches.« Pause.
Dann ungläubig die Mama: »Etwas – Psychologisches?« »Ja.« »Um was geht es denn?«, fragt der Papa. Baby: »Ihr liebt mich doch.« »Ja, klar.« »Das merke ich, das tut gut. Aber da ist etwas dabei, was mich stört.«
»Sollen wir Dich nicht lieben?« »Nein, das meine ich nicht. Aber um Eure Liebe herum ist noch so etwas Merkwürdiges, so ein komisches Gefühl. Das nervt echt.« »Was meinst Du denn?«, fragt die Mama.
Baby:
»Ja, also, irgendwie, es ist … fühlt Ihr Euch für mich etwa
verantwortlich?« »Ja klar, selbstverständlich.« »Das meint Ihr doch
nicht im Ernst!« »Oh doch. Schau mal, aus Verantwortung haben wir auch
das Licht abgedunkelt.« »Genau«, sagt der Papa, »das ist gut für Deine
Augen.«
»Ja«, sagt das Baby, »das ist ja auch okay. Aber es ist
nicht okay, dass Ihr Euch für mich verantwortlich fühlt.« »Was soll
denn daran nicht okay sein?« »Na alles. Weil ich das selbst bin. Ich bin
ein Selbstverantworter, wie jeder Mensch.«
Die Mama erstaunt:
»Was bist Du bitte? Ein Selbstverantworter? Was soll denn das sein?«
Baby: »Mama und Papa, wieso wisst Ihr das nicht? Jeder ist ein
Selbstverantworter. Von Anfang an. Ich bin das auch. Genauso wie Ihr.«
»Ach das meinst Du«, sagt der Papa. »Aber da verwechselst Du etwas. Du
wirst ein Selbstverantworter, wenn Du groß bist. Aber keine Sorge, wir
helfen Dir dabei.«
»Mama und Papa! Ich BIN ein
Selbstverantworter, ich BIN es, und muss es nicht erst werden!« Das Baby
wird laut. »Jetzt hör mal mit dem Unsinn auf«, sagt der Papa. »Lass das
Baby«, sagt die Mama, »es ist doch von der Geburt noch ganz
durcheinander. Das wird schon.«
»Nein!!!«, schreit das Baby,
»das stört, dieses Verantwortungsgefühl, das da von Euch kommt. Es tut
weh. Und ist so seltsam verwoben mit Eurer Liebe.« »Ja, Liebe und
Verantwortung sind eine Einheit und gehören zusammen. Das wirst Du schon
noch verstehen.«
»Außerdem«, sagt der Papa, »ich kenne
überhaupt kein Baby, das solche Sachen am Geburtstag diskutiert. Ruhe
jetzt. Und Augen zu.« Der Papa wird energisch. »Und jetzt schlaf, das
ist besser für Dich.« Die Mama zieht die Decke hoch.
Baby:
»Genau das meine ich.« »Na prima.« »Nein, ich meine, dass Ihr besser
wisst als ich, was für mich gut ist. Dass ich schlafen soll, statt das
mit Euch zu besprechen. Ich will das aber jetzt besprechen. Sonst kann
ich überhaupt nicht schlafen. Mama und Papa: Ich! bin! ein!
Selbstverantworter!« »Jetzt ist es aber gut!«, der Vater drückt das Baby
aufs Kissen. »Schlaf jetzt!« Und der Geburtstag ist versaut.
Die Nacht war schrecklich. Aber das Baby ist optimistisch. »Morgen kommen Oma und Opa zu Besuch. Die wissen Bescheid! Die wissen, dass alle Menschen Selbstverantworter sind, von Geburt an. Die werden Mama und Papa schon Bescheid sagen! Die beiden sind ja völlig durch den Wind von der Geburt, total überanstrengt.«
Oma und Opa kommen am nächsten Tag zu Besuch. Sie bringen Geschenke mit. Einen Strampler, ein Sparbuch. Und Gefühlsgeschenke. Liebe – wie schön – und: »Oh nein, auch dieses verdammte Verantwortungsgefühl! Das glaub ich doch nicht! Wie verkehrt ist das denn?!«
Jeder, der in den nächsten Tagen zu Besuch kommt, bringt dieses Verantwortungsgefühl mit. »Nein: ICH BIN EIN SELBSTVERANTWORTER!«
Das Baby weint. Und dieses eklige Gefühl von innerer Einmischung, das von den Eltern und allen Großen ausgeht, hört nicht auf. »Sie wissen alle, wie es in mir auszusehen hat. Sie wollen mich zu einem richtigen Menschen machen.«
Es ist am ersten Tag so, am zweiten Tag, am dritten Tag. In der ersten Woche, der zweiten, der dritten. Im ersten Monat, im zweiten, im dritten. Im ersten Jahr, im zweiten Jahr, im dritten Jahr. Die ganze Kindheit über.
Dieses Verantwortungsgefühl legt sich betäubend, wie Mehltau, auf die Seele des Kindes und vergiftet seine Grundkraft: die Selbstliebe. Das Baby wächst wie alle anderen monströs heran: »Ich kann mich nicht lieben, so wie ich bin. Ich muss erst noch ein richtiger Mensch werden, ein vollwertiger. Jemand, der für sich selbst verantwortlich ist. Das bin ich jetzt noch nicht.«
Nachts, wenn alle schlafen, ruft das Baby wütend Petrus an. »Was soll das? Wo hast Du mich hingeschickt? Hast Du keine anderen Eltern für mich? Solche, die meine Selbstkraft und Selbstverantwortung erkennen?« »Tut mir leid«, sagt Petrus, »die Menschen erkennen heutzutage nicht, was für eine Kraft in Dir lebt.«
»Sie meinen, sie müssen erst einen richtigen Menschen aus Dir machen. Sie meinen, sie müssen Dich erziehen.« »Gibt es keine Hoffnung?« »Schon«, sagt Petrus, »es gibt einige Menschen, die das anders sehen. Du wirst sie treffen und sie werden Dich unterstützen. Halt durch!«