Montag, 26. Dezember 2022

Eltern müssen gar nichts!

 


 
»Aber ich muss mich doch um mein Kind kümmern!« Das höre ich immer wieder auf meinen Vorträgen, und dann klingt es mühselig und beladen. Neulich habe ich da mal nachgehakt und bin der Sache auf den Grund gegangen. 

*

Ich kümmere mich um mein Kind, weil ich das will, weil ich das wirklich will. Eltern stehen oft mit dem Rücken zur Wand und können nicht mehr – weil »ich muss doch«. Nein, Sie müssen nicht. Niemand steht über uns und hat das Recht, uns zu zwingen.

Niemand muss sich eines Kindes annehmen und es großziehen. Niemand muss sich um ein Kind kümmern. Das hört sich nicht gut an, ist aber letztlich die Realität. Ohne das »Ich will« geht nichts, und Eltern tragen dieses »Ich will« in sich.

Eins ist aber auch klar: Wenn das »Ich will« nicht geschieht, sterben die Kinder. Das Baby ist unerwünscht? Man wohnt im Obergeschoss, öffnet das Fenster, ein Stups und das Baby fällt in den Tod. Wird man erwischt? Bestraft? »War ein Unfall.«

Aber man kann heute eleganter seine Kinder loswerden, ohne dass sie sterben. Das Zweijährige kratzt und beißt und spuckt und tobt. Die Mutter schafft es nicht mehr, der Vater ist fort, und sie will das Kind loswerden. Ohne Fenstersturz.

Sie geht zum Jugendamt, setzt ihr Kind auf den Tisch und sagt: »Nehmen Sie mir das Kind ab, sonst gibt es eine Katastrophe. Ich kann nicht mehr.« Frau Jugendamt: »Gehen Sie zur Familienberatung.« Die Mutter zieht mit dem Kind ab.

Am nächsten Morgen ist sie wieder da, Kind auf den Tisch. »Sie waren doch gestern schon da, was wollen Sie denn noch?« Die Mutter sagt nichts, flitzt ohne das Kind zu ihrem Auto, Motor läuft noch, sie braust davon. Ab zu ihren Freunden in die Toskana.

Das Kind? Es kommt abends in ein Bettchen und wird dann von liebevollen Pflegeeltern großgezogen. Die Mutter kommt nach drei Monaten zurück, bekommt ein Verfahren, wird bestraft. Eins ist klar: das Kind ist sie los, ohne Mord und Totschlag. Sie muss kein Kind großziehen. Niemand muss das.

Ich will damit sagen: Sie stehen niemals mit dem Rücken zur Wand, Sie müssen wirklich kein Kind großziehen. Es kommt eine ganz andere Frage auf Sie zu, und zwar mit Wucht, sie trifft Ihren Kern, und das möchte ich Ihnen klar machen.

»Wer bin ich?« Und: »Was will ich?« Das heißt: »Will ich mit diesem Kind (diesem kratzenden, beißenden, spuckenden, tobenden Monster) durchs Leben gehen?« Und Sie hören tief in sich ein grandioses »JA – ICH WILL«. Überwältigend, kraftvoll und voll Glück.

Wir müssen also nichts – wir wollen! »Ich will mich um Dich kümmern« ist eine ganz andere Aussage und hat eine ganz andere Power als »Ich muss mich um Dich kümmern«. Wir entscheiden selbst, in eigener Regie und Verantwortung, wie unser Weg aussehen soll. Wir lieben unsere Kinder und wollen uns um sie kümmern. Jedes »Muss« ist hier unpassend.

Auch Eltern gehören sich selbst, nichts und niemand steht über uns. Als wir Kinder waren, haben wir etwas anderes zu hören bekommen: Dass dieser und jener und dieses und jenes über uns stehen. Unser Wissen, dass wir uns selbst gehören, wurde nicht weggewischt, sondern, heftiger noch, gar nicht erst in Betracht gezogen. »Kinder werden erst richtige Menschen.«

Und als Eltern folgen wir wieder dieser tief sitzenden Störung und glauben, den Regeln und den Experten folgen zu müssen. Aber Eltern, groß gewordene Kinder, können sich von dieser eingebrannten Abhängigkeit, Kränkung und Traumatisierung lösen und sich emanzipieren. Auch Eltern gehören sich selbst, nichts und niemand steht über uns! Wir müssen gar nichts!


Montag, 19. Dezember 2022

Durchsetzen: Leid und Trost


  

Wenn Eltern sich durchsetzen, gibt es oft Leid und Tränen. Ein immer wiederkehrendes Thema auf meinen Vorträgen. Aus meinem neuen Buch hierzu:

 *

Dieses Leidzufügen beim Durchsetzen ist für die Eltern schwer zu ertragen. Wo sie doch Freudebringer sein wollen. Aber wenn wir das Leid, das wir bei den Kindern verursachen, schon nicht vermeiden können, so gibt es doch wenigstens einen Trost für uns Eltern. Gefunden bei einem großen Vorbild. Die Vorgänge, die ich gleich erzähle, kennen Sie. Ich übertrage sie in eine ungewohnte Perspektive. 

»Hier nicht, macht das woanders.« Streit an einem Sabbat im Tempel in Jerusalem vor 2000 Jahren. Jesus ist nicht begeistert. Die Händler sollen woanders hingehen. »Lass den Unfug, Jesus«, sagen sie, »wir müssen hier verkaufen. Unsere Souvenirs, Ansichtskarten und Sticker. Wir verdienen damit unser Geld und ernähren so unsere Familien.«

»Die Leute kommen hierher, zum Tempel«, fahren die Händler fort, »da ist viel Publikum, und sie kommen nicht morgen, sondern heute am Sabbat.« »Das ist ein heiliger Ort und ein heiliger Tag«, sagt Jesus nachdrücklich. »Ja, für Dich, Jesus, aber wir müssen hier unsere Geschäfte machen, Geldwechseln und so weiter. Jetzt geh weg, Du machst die Kunden verrückt, Du nervst.«

Jesus wird ärgerlich. Er hat freundlich mit ihnen geredet, aber das bringt nichts, die Geldwechsler sehen es nicht ein. Die Geldwechsler könnten ja auch gut finden, was Jesus sagt. Könnten! Tun sie aber nicht. Die Kinder könnten ja auch gut finden, was die Eltern sagen. Könnten! Tun sie aber nicht.

Jesus’ Ärger macht ihn lauter, er schreit die Händler und Geldwechsler an. Die sind entsetzt. Alle Leute sind verschreckt und ziehen sich zurück. Nichts geht mehr, kein Anhänger wird mehr verkauft, kein Geld mehr gewechselt.

Aber die Händler geben nicht auf, sie drängen ihn zurück. Da wird Jesus wütend, er greift nach einer Peitsche, schmeißt ihre Verkaufstische um und drischt auf sie ein. Er verursacht ein riesiges Getümmel – durch ihn entsteht Leid.

Jesus ist für viele Trost und Erlösung. Wie jeder von uns hat er aber auch seine Werte und Grenzen. Zu denen er steht und die er so gut es geht auch durchsetzt. Dabei entsteht durchaus Leid – wie bei den Eltern, wenn sie sich den Kindern gegenüber durchsetzen.

Jesus hat wie alle Kinder auch seine Eltern aufgeregt. Als er zwölf war, haben ihn seine Eltern einmal lange gesucht, er war drei Tage weg. Schließlich fanden sie ihn, und seine Mutter stellte ihn zur Rede:

»Kind, wie konntest Du uns das antun? Dein Vater und ich haben Dich voll Angst gesucht!« (So steht es in der Bibel.) Jesus bekam nicht mit, welches Leid er verursacht hatte. Drei Tage lang hatte er die Eltern versetzt, so vertieft war er in die Diskussionen im Tempel.

Er fragte nur aus seinem Kinderkosmos heraus: »Warum habt Ihr mich gesucht? Wusstet Ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?« Aber »sie verstanden das Wort nicht, das er zu Ihnen sagte«. Kinderkosmos eben. Marias und Josephs Schmerz und ihr Leid der letzten drei Tage wird das nicht gemildert haben, auch wenn Maria »alle diese Wort in ihrem Herzen behielt«.

Und wenn Jesus das passiert ist, wenn auch von ihm Leid ausging, von diesem Garanten und Symbol der Liebe und des Friedens, »dann«, sage ich den Eltern, »seid nicht so besorgt, wenn auch von Euch Leid ausgeht.«




Montag, 12. Dezember 2022

Halt durch!

 


Das Baby ist geboren, liegt neben der Mama und ruht sich aus. Aber irgendetwas stimmt nicht. »Mama, Papa, irgendetwas stimmt nicht.« »Hast Du Hunger?«, fragt die Mama. »Nein, das ist es nicht.« »Ist Dir kalt? Ich hole noch etwas zum Zudecken«, sagt der Papa. »Nein, das ist es auch nicht. Es ist etwas Psychologisches.« Pause.

Dann ungläubig die Mama: »Etwas – Psychologisches?« »Ja.« »Um was geht es denn?«, fragt der Papa. Baby: »Ihr liebt mich doch.« »Ja, klar.« »Das merke ich, das tut gut. Aber da ist etwas dabei, was mich stört.«

»Sollen wir Dich nicht lieben?« »Nein, das meine ich nicht. Aber um Eure Liebe herum ist noch so etwas Merkwürdiges, so ein komisches Gefühl. Das nervt echt.« »Was meinst Du denn?«, fragt die Mama.

Baby: »Ja, also, irgendwie, es ist … fühlt Ihr Euch für mich etwa verantwortlich?« »Ja klar, selbstverständlich.« »Das meint Ihr doch nicht im Ernst!« »Oh doch. Schau mal, aus Verantwortung haben wir auch das Licht abgedunkelt.« »Genau«, sagt der Papa, »das ist gut für Deine Augen.«

»Ja«, sagt das Baby, »das ist ja auch okay. Aber es ist nicht okay, dass Ihr Euch für mich verantwortlich fühlt.« »Was soll denn daran nicht okay sein?« »Na alles. Weil ich das selbst bin. Ich bin ein Selbstverantworter, wie jeder Mensch.«

Die Mama erstaunt: »Was bist Du bitte? Ein Selbstverantworter? Was soll denn das sein?« Baby: »Mama und Papa, wieso wisst Ihr das nicht? Jeder ist ein Selbstverantworter. Von Anfang an. Ich bin das auch. Genauso wie Ihr.«

»Ach das meinst Du«, sagt der Papa. »Aber da verwechselst Du etwas. Du wirst ein Selbstverantworter, wenn Du groß bist. Aber keine Sorge, wir helfen Dir dabei.«

»Mama und Papa! Ich BIN ein Selbstverantworter, ich BIN es, und muss es nicht erst werden!« Das Baby wird laut. »Jetzt hör mal mit dem Unsinn auf«, sagt der Papa. »Lass das Baby«, sagt die Mama, »es ist doch von der Geburt noch ganz durcheinander. Das wird schon.«

»Nein!!!«, schreit das Baby, »das stört, dieses Verantwortungsgefühl, das da von Euch kommt. Es tut weh. Und ist so seltsam verwoben mit Eurer Liebe.« »Ja, Liebe und Verantwortung sind eine Einheit und gehören zusammen. Das wirst Du schon noch verstehen.«

»Außerdem«, sagt der Papa, »ich kenne überhaupt kein Baby, das solche Sachen am Geburtstag diskutiert. Ruhe jetzt. Und Augen zu.« Der Papa wird energisch. »Und jetzt schlaf, das ist besser für Dich.« Die Mama zieht die Decke hoch.

Baby: »Genau das meine ich.« »Na prima.« »Nein, ich meine, dass Ihr besser wisst als ich, was für mich gut ist. Dass ich schlafen soll, statt das mit Euch zu besprechen. Ich will das aber jetzt besprechen. Sonst kann ich überhaupt nicht schlafen. Mama und Papa: Ich! bin! ein! Selbstverantworter!« »Jetzt ist es aber gut!«, der Vater drückt das Baby aufs Kissen. »Schlaf jetzt!« Und der Geburtstag ist versaut.

Die Nacht war schrecklich. Aber das Baby ist optimistisch. »Morgen kommen Oma und Opa zu Besuch. Die wissen Bescheid! Die wissen, dass alle Menschen Selbstverantworter sind, von Geburt an. Die werden Mama und Papa schon Bescheid sagen! Die beiden sind ja völlig durch den Wind von der Geburt, total überanstrengt.«

Oma und Opa kommen am nächsten Tag zu Besuch. Sie bringen Geschenke mit. Einen Strampler, ein Sparbuch. Und Gefühlsgeschenke. Liebe – wie schön – und: »Oh nein, auch dieses verdammte Verantwortungsgefühl! Das glaub ich doch nicht! Wie verkehrt ist das denn?!«

Jeder, der in den nächsten Tagen zu Besuch kommt, bringt dieses Verantwortungsgefühl mit. »Nein: ICH BIN EIN SELBSTVERANTWORTER!«

Das Baby weint. Und dieses eklige Gefühl von innerer Einmischung, das von den Eltern und allen Großen ausgeht, hört nicht auf. »Sie wissen alle, wie es in mir auszusehen hat. Sie wollen mich zu einem richtigen Menschen machen.«

Es ist am ersten Tag so, am zweiten Tag, am dritten Tag. In der ersten Woche, der zweiten, der dritten. Im ersten Monat, im zweiten, im dritten. Im ersten Jahr, im zweiten Jahr, im dritten Jahr. Die ganze Kindheit über.

Dieses Verantwortungsgefühl legt sich betäubend, wie Mehltau, auf die Seele des Kindes und vergiftet seine Grundkraft: die Selbstliebe. Das Baby wächst wie alle anderen monströs heran: »Ich kann mich nicht lieben, so wie ich bin. Ich muss erst noch ein richtiger Mensch werden, ein vollwertiger. Jemand, der für sich selbst verantwortlich ist. Das bin ich jetzt noch nicht.«

Nachts, wenn alle schlafen, ruft das Baby wütend Petrus an. »Was soll das? Wo hast Du mich hingeschickt? Hast Du keine anderen Eltern für mich? Solche, die meine Selbstkraft und Selbstverantwortung erkennen?« »Tut mir leid«, sagt Petrus, »die Menschen erkennen heutzutage nicht, was für eine Kraft in Dir lebt.«

»Sie meinen, sie müssen erst einen richtigen Menschen aus Dir machen. Sie meinen, sie müssen Dich erziehen.« »Gibt es keine Hoffnung?« »Schon«, sagt Petrus, »es gibt einige Menschen, die das anders sehen. Du wirst sie treffen und sie werden Dich unterstützen. Halt durch!«

Montag, 5. Dezember 2022

Von der Pike auf

 

 

Ich wurde gefragt, wie das damals mit meiner Forschung war. Es war so:

Ich nahm mir zweieinhalb Jahre Zeit und führte eine Feldstudie über nichtpädagogische Beziehungen durch. Also eine praktische Arbeit mit Kindern. Die Forschungskinder waren drei bis 18 Jahre alt. In kleinen Gruppen, jeweils im gleichen Alter. Also zwei Dreijährige, drei Vier- bis Sechsjährige, dann Sieben- bis Neunjährige und so weiter. Wir trafen uns nachmittags, an Wochenenden und in den Ferien in meinem Ferienhaus.

Wie ging das ab? Nach dem Prinzip des „Einfach-So“, wie ich das nannte. Ich kam mit meinem Käfer zur festgesetzten Zeit zu den Treffpunkten. „Was machen wir heute?“ Sie hatten Vorschläge. Wenn nichts kam, hatte ich welche. Irgendetwas passierte dann. Ab in den Wald, Baggerloch, alter Steinbruch, Felsenklettern, Abenteuerböschung, Kanal, Fluss, Geländespiel, Bumerangwerfen, meine Wohnung, Monopoly, Jugendzentrum, Rudern, Bäumeklettern, Zoo, Pferde, Disco, sonst was. Rumfahren im Auto und dabei Quatschen war sehr beliebt, ich chauffierte und hörte zu. Und immer wieder einfach Abhängen, passte immer. Mit was zu Futtern aus meinem Picknickkorb. Oder aus der Pommesbude. Von nachmittags um drei bis abends um sechs, sieben, acht oder neun, das Ende setzten sie selbst fest.

Die Kinder machten ihr Ding, ich war dabei, als „Gast im Kinderland“, machte mit oder auch nicht. Ich war akzeptiert und gemocht und störte sie nicht. Vor allem: Ich war nicht distanziert, ich beobachtete sie nicht mit weißem Forscherkittel. Ich war eingebunden, ich erlebte mit. Ich war ganz da, die Person, die ich bin. Ich dirigierte sie nicht, ich nahm mich aber auch nicht zurück. Und wenn mir etwas nicht passte, dann sagte ich das auch. Kurzum, ich ging mit ihnen so um, wie ich mit meinen erwachsenen Freunden auch umgehe: auf gleicher Augenhöhe. Es war ein großes Abenteuer in einem fremden und zugleich vertrautem Land.

Ich nahm das alles in mich auf. Und nach und nach wurde es klarer und dichter: So – so sind sie, die Kinder. Und so – so komme ich mit ihnen zurecht, wenn ich sie nicht pädagogisch sehe und angehe, sondern authentisch mit ihnen unterwegs bin. Was das „so“ bedeutet? Tja! Was bedeutete das „so“ im gleichwertigen Umgang mit Afrikanern? Mit Frauen? Mit einer anderen Religion? Mit der Natur? Das lässt sich nicht in drei Worte fassen. Ich notierte dazu 782 „Determinanten“, Orientierungen für unser gleichwertiges Miteinander. Das „so“ ist eine besondere Qualität des Miteinanders.

Ich lernte also von der Pike auf, worauf man achten muss, wenn man mit Kindern gleichwertige Beziehungen realisieren will. Wo sind die Ecken und Kanten? Ich fand es heraus. Und schrieb einen Bericht darüber, eine Doktorarbeit, gab ordentlich alle Zitate an. Sie wurde anerkannt mit „magna cum laude“, „sehr gut“. Ich war Doktor der Philosophie.