Montag, 11. Februar 2019

Wissenschaftliche Befangenheit







In meiner Dissertation schrieb ich davon, dass ich mich von der "wissenschaftlichen Befangenheit" lösen konnte, wenn ich mit Kindern zusammen war. Mir war wichtig, die "jungen Menschen", wie ich die Kinder nannte, nicht irgendwie "objektiv" zu beobachten/erforschen. Mir ging es um anderes: um Wahrheiten, und zwar um subjektive Wahrheiten. Hierzu die Passagen der Seiten 112-115 der Diss.

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Bis zum Encounteseminar in Berlin im März 1977 war meine Wahrnehmung in der Kommunikation mit jungen Menschen spezifisch verstellt. Der Ablösungsprozess von der herkömmlichen wissenschaftlichen Denkweise hinsichtlich kommunikativen Geschehens im Umgang mit jungen Menschen war noch nicht "über den gewissen Punkt hinaus" vollzogen. In den vielen vorausgegangenen Kommunikationssituationen - vor allem in den Encountergruppen in La Jolla - konnte ich meine Fähigkeit zur Wahrnehmung kommunikativer Prozesse vertiefen und weiterkommen im Mich-Wahrnehmen, Mich-Ausdrücken, Dich-Wahrnehmen, Uns-Wahrnehmen. Doch erst in Berlin gelang mir die entscheidende Ablösung von der "wissenschaftlichen Befangenheit", gerade rechtzeitig vor der Erweiterung der Gruppenarbeit mit den jungen Menschen.

Es kostete mich seitdem keine Anstrengung mehr, in der Kommunikation mit jungen Menschen "einfach ich zu sein" - ich fühlte mich nicht länger einem "Forschen-Müssen" verpflichtet. Das Risiko, durch das personale Hineingehen in die Kommunikation (mit dem Verzicht auf Metareflexion während der Kommunikation und der Aufgabe von "expertenhafter Distanz") eventuell nichts zu finden und dann mit leeren Händer dazustehen, war keine Barriere mehr. Dies wäre dann eben das Ergebnis (vielleicht auch: ein Ergebnis) der Arbeit gewesen. Ich war frei und stark genug, mich darauf einzulassen

Ich konnte nun das Projekt so durchführen, wie ich es wollte, befreit und angstfrei traditionellen wissenschaftlichen Normen gegenüber. Ich fand wieder Zugang zum "Einsatz des personalen Risikos" und brachte MICH ungestört von traditionellen Wissenschafts- und Forschungsüberlegungen in die Kommunikation mit jungen Menschen ein. Und ich fand dieses Element (Einsatz des personalen Risikos) auch bei den jungen Menschen wieder und begann mit Erfahrungen neuer Art

Um nicht in objektivierendes Beobachten abzugleiten, brachte ich mich in bestimmte Orientierungsmuster ein. Drei Orientierungsmuster stelle ich beispielhaft vor:

Einbringen
Einbringen bedeutet, dass ich mich nicht teilweise oder "nur zum Zweck des Herausfindes" in die Kommunikation begab, sondern dass ich "mich insgesamt" der Kommunikation und ihren Orientierungen "überschrieb": Ich entschloss mich, SO (kommunikativ mit jungen Menschen) zu SEIN - existentiell so zu sein. Es sollte in meinem Zusammensein mit jungen Menschen nichts sein, das sich von meinem sonstigen Verhalten unterschied. Ich war nicht "Fachmann", sondern der, der ich bin, ohne spezielle Rollenzuteilung. Ich verließ den Boden des "Objektiven" und öffnete mich für das Abenteuer des Subjektiven mit dem deutlichen Gefühl relevanten Forschens.

Geschehen-Lassen
Ich ging davon aus, dass ich mir keinen Zwang antun dürfe, wenn ich Relevantes herausfinden wollte. Dies bedeutete eine gewisse Paradoxie: Einerseits wollte ich etwas herausfinden - andererseits wollte ich "da nicht hinterher sein". Ich wollte mir durch ein intensives Hinsehen nicht meine Sensibilität für rezeptorisches Erkennen zerstören. Ich war offen und ließ das, was mit mir und den jungen Menschen geschah (was auch durchaus aktiv von mir gestaltet wurde), auf mich wirken. Ich ließ die Kommunikation geschehen, ich ließ meine Erfahrungen in mir sich entwickeln. Ich nahm die Phänomene an, wie sie sich mir darstellten, anteilnehmend und beteiligt. Ich vermied es jedoch, das Erfahrene loszulösen vom kommunikativen Geschehen, um mittels Reflexion oder gezielten Beobachtens Entdeckungen weiter zu verfolgen oder "ihnen auf den Grund zu gehen". Ich vertraute mich der Kommunikation an, und wenn es einen Grund geben würde, dann würde er sich mir mitteilen. Ich konnte dies sich entwickeln lassen, geschehen lassen. Ich setzte darauf, dass sich mir durch diese Haltung mitteilen würde, was sich zwischen mir und den jungen Menschen vollzog, sofern es überhaupt erfahrbar wäre.

Verzicht auf Metareflexion
Ich verzichtete konsequenterweise auf Metareflexion während kommunikativer Prozesse. Ich war "in" einer Situation, ich "ging in ihr auf" - aber ich stand nicht "über" einer Situation. Ich hielt mein Denken nicht während der Kommunikation "in Reserve". Die Unmittelbarkeit unserer Beziehung durchdrang mich und prägte sich mir ein. Ich wollte mich dieser Unmittelbarkeit aussetzen und musste in sie auch mein Reflexions-Potential einbringen (und mich nicht von ihm aus der Unmittelbarkeit hinaustragen lassen). Direkt im Anschluss an Kommunikationssituationen konnte ich Aussagen über die gerade erlebte Situation machen, solange die Erfahrung noch gegenwärtig war. Eine Metareflexion während der Kommunikation hätte meine Erfahrung (dieser Kommunikation) zertört, erfahren hätte ich dann die Metakommunikation, nicht mehr die Kommunikation. Gelegentlich gelang es mir, auch während der Kommunikation unmittelbar von ihr zu berichten - als Erfahrungsbericht, nicht als Metareflexion.