Mittwoch, 11. April 2018
Mein Weg zur Amication: Gleichwertigkeit
Mein Weg zur Amication: Im Post vom 27.3. habe ich dazu einen
ausführlichen Vorspann geschrieben, bitte dort nachlesen.
Ich habe die amicative Sicht auf die Kinder nicht irgendwie lernen
müssen, sonder es war vielmehr so, dass sie mich im Laufe meines
Großwerden nicht verlassen hat. Es gab viele Ereignisse in meinem
Kinderleben, die mich auf dem Pfad der Amication hielten und be-
schützten. So dass ich gar nicht erst von pädagogischen Strukturen
eingefangen werden konnte. Woran erinnere ich mich?
*
Gleichwertigkeit
Mein Gefühl, Wissen, Präsenz, Selbstverständlichkeit, Identität:
Dass ich nicht über Kindern stehe - wiewohl ich älter bin. Dass
genau das aber gesellschaftlich gilt, fundamental, unbefragt,
Ausgang aller Überlegungen und aller Handlungen mit Kindern,
präsent in jedem Buch, Gespräch, Diskussion, Gesetz. Diesen
Widerspruch von meiner inneren Position und der äußeren Welt
erfuhr ich gleich zu Beginn meines Lehrerstudiums, einer päd-
agogischen Disziplin. Doch der Fels der Gleichwertigkeit, der
mein Fundament ist, hielt stand, bis heute. Woher kommt dieses
Urgefühl? Was hat es gestützt? Und, wie gesagt, woran erinnere
ich mich?
Die Hintergrundmusik
Die Hintergrundmusik der Gleichwertigkeit, mit der ich in der
Kindheit mit den anderen Kindern unterwegs war, ist nie ver-
schwunden. Ich spüre sie auch heute in mir. Sie hat mich nie
verlassen. So gesehen bin ich Kind unter Kindern, wobei die
anderen Kinder zig Jahre jünger oder gleichalt oder älter als
ich sein können.
Die Rufe der Kinder
Bis zum Ende meiner Grundschulzeit wohnten wir im Wald, und
100 Meter neben unserem Haus, auf der anderen Seite der kleinen
Straße, lag eine große Villa. Sie war von den Briten beschlagnahmt
und wurde als Schule für die Kinder der englischen Soldaten ge-
nutzt. Mehrmals am Tag gab es einen Riesenlärm: Die Kinder
hatten Pause und sausten und tobten draußen vor der Schule. Es
schallte und hallte zu uns und umtoste zwanzig, dreißig Minuten
lang meine Welt. Eine grandiose Botschaft, unvergessene Musik,
nachhallender Ruf: "Das sind wir." Und ich war dabei, schwang
mit, eine tiefe Resonanz. Rufe aus einer demokratischen Welt,
in der Gleichwertigkeit Basiswert ist. Ich wurde gefüttert und
geimpft mit dieser Nahrung: Wir sind von gleicher Art - ich war
dabei, ich fühlte mich wohl, wenn sie so lauf riefen. Es war ein
Heimatgefühl. Und wenn ich gelegentlich hinüberlief, war ich
willkommen.
Der Wald
Wir wohnten also im Wald. Und ich war mit meinen Geschwistern
und Freunden jeden Tag draußen, nach der Schule bis zum Abend-
essen. Unterwegs in der grandiosen Kulisse der Natur, Teil und
Akteur. Von vier bis zehn, sechs lange Jahre, war ich täglich für
viele Stunden umgeben von Wesen, die sind, die nicht über und
nicht unter mir stehen. Die einfach existieren, stattfinden, ohne
Belehrung, Besserwisserei, pädagogischen Impuls. Mit denen
ich mich auseinandersetzte und im Austausch war, von Gleich
zu Gleich: Bäume, Sträucher, Blumen, Erde, Wasser, Steine,
Sand, Vögel, Hasen, Rehe, Wolken, Regen, Sonne, Nachtdunkel,
Dämmerung, Schnee, Eis, Hagel, Hitze, Tannennadeln, Himbeeren,
Brombeerstacheln, Farnkraut, Brennesseln, Borke, Käfer, Wespen,
Ameisen, Zapfen, Wurzeln, Äste. Äste: Als ich einen Baum rauf-
kletterte und der Ast brach, sagte er nicht "Siehst Du, pass besser
auf!". Er schwang sich nicht über mich empor. Er brach einfach
und fertig. Ich atmete und bewegte mich in einer Welt ohne Vor-
wurf, in einer Welt der Gleichwertigkeit. Jeden Nachmittag, sechs
lange Jahre.
Die Gleichen
Beim Spielen mit den Gleichaltrigen war nichts außer Gleich-
wertigkeit. Wenn wir in der Scheune balancierten: jeder auf
seine Weise, mit mehr oder weniger Mut, aufrecht, robbend,
sitzend, unter uns der gefährliche Bulle. Wir waren verschwo-
ren, solidarisch, von gleicher Art. Was immer wir anstellten.
Und wir wussten um uns, wenn ein Erwachsener in unsere
Welt einbrach, freundlich oder feindlich: er war anders, oben,
maß uns das Unten zu. Aber er erreichte uns nicht wirklich,
denn in unserem Land gab es kein Oben und kein Unten.
Der Indianer
6. Klasse. Alle in der Aula, alle Schüler und das gesamte Kol-
legium. Oben auf der Bühne ein Seltsames: Ein Mensch aus
einer anderen Welt, mit Lederkleidung und Federschmuck.
Damals reisten Indianer, Häuptlinge natürlich, durch Europa
und hielten Vorträge in den Schulen. Es gab an diesem Vor-
mittag eine so grundlegende Akzeptanz dieser Andersartigkeit,
dass es mich tief erreichte. Die Lehrer hatten diese Akzeptanz
und hielten sie die 2 Stunden aufrecht. Und die ganze Mann-
schaft schwang darin ein. Eine Sternstunde! Es hätte ja so ganz
anders ausgehen können: Belustigen bis Auslachen, Häme bis
Verachtung für so ein Federwesen. Nein, es war eine eindrück-
liche Lehrstunde der Gleichwertigkeit.
Die Wettkämpfe
Bei meinen Wettkämpfen in der Leichtatlethik von 14 bis
17 gab es natürlich Gegner: Wir kämpften um den Sieg. Mein
Trainer war von besonderer Art: Er war voll davon, dass hier
niemand über oder unter dem anderen steht. Egal, wie gut
oder weniger gut wir waren, gewannen oder verloren. Die
Wettkämpfer waren von gleichem Wert. Ich habe das bei
anderen Teams mit anderen Trainern sehr anders erlebt, da
war ein Sieger eben besser, höher, wertvoller, angesehener
als ein Verlierer. War bei unserem Team nicht so. Und ich
fühlte mich dann, wenn ich gewann (was oft vorkam), nicht
irgendwie als der Bessere. Ich hatte nur einfach die bessere
Leistung gebracht, Tagesform super, was ja auch anders hätte
sein können. Klar hat mich ein Sieg gefreut - aber eben nicht
über die anderen gesetzt.
Die demokratischen Gesetze
Als ich Jura studierte, durchzog eine grundlegende Gleich-
wertigkeit das ganze Szenario. Es wurden ja nicht die Gesetze
des Kaisers oder des Diktators verhandelt, sondern die Ge-
setze der Bundesrepublik Deutschland. Demokratie, Grund-
gesetz. "Die Wüde des Menschen ist unantastbar". Das passte
einfach. Passte zu meinem Weltgefühl. Und so wurde das
Verfassungsrecht mein Lieblingsfach. Da ging es in vielen
Nuancen um die Ausgestaltung dieser Gleichwertigkeit.
Das pädagogische Tor
Als ich nach einigen Semestern Jura die Fakultät wechselte
und Lehramt studierte, las ich über dem Eingangstor der päd-
agogischen Hallen: "Homo educandus". Der Mensch ist ein
Erziehungswesen. Bitte was? Erwachsene oben - Kinder
unten? Werden zu Menschen gebildet, geformt, gemacht?
Sind nicht gleichwertig? Die gutgemeinte, vormundschaft-
liche und letztlich eben doch diktatorische Grundstimmung,
die mich da anfiel, in jeder Vorlesung, jedem Buch, jedem
Gespräch: das ging ja gar nicht und war mit mir nicht zu
machen. Ich suchte und fand den anderen, den gleichwer-
tigen Weg, den Erwachsene zu Kindern gehen können. Es
ist dies ein Pfand, der in jedem von uns schlummert, ein
Wissen aus der eigenen Kindheit.