„Wie oft lügst Du am Tag?“ Mich hat die Frage
überrascht. Nicht wegen des Fragers, sondern wegen der Frage. Man
lügt doch überhaupt nicht oft. Und schon gar nicht mehrmals am Tag
– was so eine Frage ja impliziert. Jedenfalls dachte ich das. Dass
nur selten gelogen wird. Aber der Frager hat ja wohl was anderes vor
Augen.
„Überhaupt nicht“, sage ich. „Vielleicht einmal
in 10 Jahren“. Oder auch öfter? Ich denke nach, finde aber nichts.
Na ja, vielleicht blende ich da ja auch was aus. Egal. Aber ich nehme
die Frage auf und sinne darüber nach. Wie ist das mit der Lügerei?
Wer das tut, tun will, tun muss – sein Ding. Sogar sein
gutes Recht. Gehört jemand die Wahrheit? Wir gehören uns selbst,
und damit ist es auch unser Ding, wie wir mit der Wahrheit umgehen
wollen. Und da gibt es eben Kleinlüger, Großlüger, Seltenlüger,
Viellüger, Lügenbolde. Da ist nichts zu verurteilen. So etwas
findet statt. Es will natürlich damit umgegangen sein.
Wie
geht der Lügende damit um? Schlechtes Gewissen? Gutes Gewissen? Aus
der Not heraus. Aus der Bestimmerei heraus. Wegen des Vorteils. Wegen
der Beschämung. Wegen der Angst. Wegen der Verachtung. Wegen des
Schmerzes. Wegen der Sehnsucht. Wegen der Liebe. Wegen viel. Die
Wegens können edel, weniger edel oder gar nicht edel sein.
Ich
mag hier im Nachdenken das Wort Lügner nicht, es ist so ungut
besetzt, und ich bin nicht im Unguten, wenn ich über jemanden
nachdenke, der lügt. Deswegen sage ich „Lügender“. Ich schwinge
nicht ins Verurteilen, ich schwinge ins Verständnishaben. Nicht,
weil ich viel lüge, tu ich nicht. Sondern weil ich das für
angemessen halte. Wer lügt, zettelt etwas Gutes an – klar, für
sich. Die Lüge ist ein Geschöpf des Guten, der Liebe. Die man sich
selbst gibt. Die einem zusteht.
Dass dies Leid und Ungutes
bewirken kann, eher: wird, bleibt mir ja dabei nicht verborgen. Ich
vergesse aber nicht die Quelle der Lüge. So wie mir auch das Leid
der Kuh nicht verborgen bleibt, die ich töte, um zu essen. Ich töte
wegen meines Vorteils, ich lüge wegen meines Vorteils. Durchs Leben
gehen und meine Vorteile realisieren, finde ich richtig, und anders
geht es nicht. Geht es doch? Ohne Töten kein Leben. Ohne Lügen kein
– ja was? Ohne Lügen kein Leben. Lässt sich das vergleichen,
übertragen?
Mit Lügen kein Leid – auf meiner Seite. Wohl
Leid auf Deiner Seite. Ist das einfach nur dem Egoismus das Wort
geredet? Egoismus passt beim Töten der Kuh nicht, da gilt so etwas
wie unabdingbar, nötig, wenn ich nicht esse, sterbe ich. Beim Lügen
gilt anderes? Sehe ich nicht so. Wenn die Lüge nicht unabdingbar,
nötig wäre, würde sie ja nicht kommen. Dann wird die Wahrheit
gesagt. So einfach ist das!
Und wie geht es mir, wenn ich
herausfinde, dass ich angelogen wurde? Ganz klar: Ich gehe nicht
durch das Verurteilungs-Tor und tummele mich nicht auf dem dunklen
Feld dahinter mit all den zugehörigen Seltsamkeiten:
Schuldzuweisung, Empörung, Beleidigtsein, Runterputzen,
Enttäuschung, Ärger, Groll, Wut, Hass, ach was weiß ich. Tore, die
ins Dunkle führen, mag ich sowieso nicht, und sie liegen mir
nicht.
Also: was ist, wenn ich angelogen wurde? Da bleib ich
cool. Erst mal „nehm ich zur Kenntnis“ (wie das so schön neutral
heißt), dass es anders ist als bis grad noch gedacht. Ich korrigiere
meine Wirklichkeit, sortiere das um. Mir ist sofort klar, dass die
Lügerei nicht grundlos stattgefunden hat, dazu fließt ein Nachsehen
(sehe Dir das nach). Und eine Freundlichkeit, weil ich denke, dass es
dem Lügenden nicht gut geht. Wenn es ihm bei seiner Lügerei gut
geht: auch gut. Mich regt das alles jedenfalls nicht auf. Ich frage
mich zügig, wie es weitergeht. Mit der neuen Information, die jetzt
als neue Wahrheit neben die alte Wahrheit tritt, die ja eine
Nicht-Wahrheit sein soll, Lüge eben.
Will ich weiter mit dem
Menschen zu tun haben, der mich angelogen hat? Das will gut bedacht
sein. Ich mache ja keinen Vorwurf, nur die Verlässlichkeit ist
angekratzt oder weg. Mein Vertrauen, von Dir die Wahrheit zu
bekommen, ist beschädigt. Es kommt ganz darauf an, wie meine
Beziehung zu Dir überhaupt ist. Wie viel mich Deine Unwahrheit
nervt, Du mich nervst. Vielleicht instrumentalisiere ich Deine Lüge
(nicht bewusst, aber passiert): sie kommt mir recht, weil ich meine
Beziehung zu Dir eh runterfahren will. Da ist dann kein Ärger,
sondern Abwendung, keine Lust auf so etwas, keine Lust auf
Lügenmärchen.
Ja, oder es macht mir eben nichts aus, ich
sehe Deine Not oder Unverfrorenheit, Deine Sorge, dass ich Dir es
übelnehme und weggehe. Wenn ich Dich genug mag, lasse ich mich von
Deinen Lügenmärchen nicht wegspülen. So bist Du halt. Jetzt grad
mal. Oder auch öfter. Es ist schon mein Job, auf Deine Lüge zu
reagieren, den mache ich dann auch. Ich freue mich über Dich, auch
über Deine Lügenmärchen: so kann es schon kommen. Wenn es nicht
überhand nimmt und die Frage hervorbringt: „Wie oft am Tag...“