Montag, 27. Oktober 2025

Weil sie keiner zur heiligen Kuh macht

 

 

Im Zusammenhang mit „Kinder und Grenzen“ wird meist darüber nachgedacht, welche Grenzen den Kinder gezogen werden sollten. Mit geht es aber jetzt einmal um die Grenzen, die Kinder (wie alle Menschen) um sich selbst haben. Wenn Grenzüberschreitungen den Kindern gegenüber passieren, und wie man das verhindern kann.

Wenn man es merkt, dass Kinder auch Grenzen haben, ist man schon den ersten Schritt gegangen. Natürlich haben sie viele Bereiche, wovor ihr Stoppschild steht. Wenn man jedoch meint, dass Kinder (noch) keine vollwertigen Menschen sind, sondern erst richtige Menschen werden, kommt man kaum auf die Idee, ihnen richtige individuell-spezielle Grenzen zuzubilligen. Aber natürlich: jedes Lebewesen hat seine Grenzen. Allgemeine und spezielle.

Die allgemeinen Grenzen der Kinder werden heutzutage ganz gut bedacht: Kinder dürfen nicht in zu dünne Zonen von Liebe, Achtung, Würde, und äußeren Lebensumständen (Essen, Kleidung, Wohnen usw.) geraten.

Es geht mir aber um die speziellen Grenzen: um die Stoppschilder dieses Kindes, dieses einzelnen Menschen. Jeder hat da andere, manche/viele sind gemeinsam.

Klaus (5) ist ein Acht-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind: Es macht keinen Sinn, von ihm zu verlangen, um Sieben ins Bett zugehen.
Ulrike (3) ist im Gummibärchen-Fan-Club: Es macht keinen Sinn, von ihr die Herausgabe der Club-Karte zu verlangen.
Moritz (9) ist ein Ich-Räume-Nicht-Auf-Kind. So geworden im Laufe der Jahre, bei diesen Eltern, bei dieser Oma. Es macht keinen Sinn, darauf zu bestehen, dass erst aufgeräumt wird, bevor ...
Monika (14) raucht, und zwar eine Menge: Ihr das Rauchen zu verbieten macht keinen Sinn. Doch? Was passiert, wenn sie raucht, weiß sie längst. Aber sie hat ihre Grenze eben anders gezogen. Zigaretten gehören zu ihr, zu ihrem Selbstbild. Wie bei ihrer Tante. Und dem Klassenlehrer. Ihr die Zigaretten zu verbieten, missachtet ihre Grenze: missachtet sie.
Die Beispiele lassen sich unendlich fortsetzen.

Eine Grenzüberschreitung ist eine Grenzüberschreitung. Da sollte man sich nichts vormachen. Unzulässig aus der Sicht des Betroffenen. Aber ich sage nicht, dass man nun alles hinnehmen soll: Hinnehmen, wie mein Kind zu wenig Schlaf bekommt (meine Grenze „Er braucht aber 12 Stunden Schlaf“ wird missachtet). Hinnehmen, wie der Süßkram die Zähne kaputtmacht (meine Grenze „Sie soll gesunde Zähne haben“ wird missachtet), usw.

Ich will etwas anderes: Wenn einem präsent ist, dass die Kinder da vor einem auch Grenzen haben, berechtigte Grenzen – dann wird man etwas einfühlsamer, umgänglicher, stressfreier in dieser Frage. Ich habe das immer dabei gehabt, dieses Wissen: dass Kinder vollwertige Grenzen-Menschen sind. Und dass Fingerspitzengefühl dazugehört, mit ihren Grenzen umzugehen. Wie bei „allen“ Menschen und Lebewesen (ich halte keine Katze gegen ihren Willen fest, ich hänge mich nicht an einen zu dünnen Ast).

Wenn ich eine Grenzüberschreitung nicht vermeiden will (ich verstoße gegen Deine Grenze, damit dies nicht mit mir passiert), dann ohne Lüge. „Ich weiß, dass ich Deine Grenze missachte. Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Ohne Tricks „Sieh das ein. Es ist besser für Dich“.

Menschen haben vielfältige Liebenswürdigkeiten oder Behinderungen (beides ist dasselbe, je nach Perspektive): lila Haare, Gurken zum Frühstück, krank im Hirn, zu kurzes Bein, Bus statt Auto, Auto statt Bus.

Es macht keinen Sinn, von jemandem zu verlangen, er soll sein Bein nachwachsen lassen. Es macht keinen Sinn, einen Hund zum Unterricht zu schicken, damit er Staubsaugen lernt. Es macht keinen Sinn, von der Schwerkraft zu verlangen, dass sie aufhört, damit ich fliegen kann. Realitäten. Kennen wir. Können wir mit umgehen.

Klaus geht um acht ins Bett. Ulrike isst Gummibärchen. Moritz räumt nicht auf. Monika raucht. Realitäten. Kennen wir. Können wir mit umgehen. So einfach ist das.

Was will ich wirklich? (Die Praxisfrage der Amication!) Mit diesem Kind leben? „Ja.“ Es ist ein Acht-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind und kein Sieben-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind. „Es soll sich ändern.“ Soll sein Bein nachwachsen? „Das ist nicht zu vergleichen. Niemand muss morgens Gurken essen.“ Wirklich? Wer sagt das? Vergleicht doch. Was passiert, wenn man vergleicht? Geht die Welt unter? Was steht auf dem Spiel?

Ich habe immer gemerkt, dass Krieg oder Frieden auf dem Spiel stehen. Natürlich kann ich in den Krieg ziehen, und ich habe auch oft gewonnen. Und oft verloren. Aber: Ich muss nicht in den Krieg ziehen. Nicht für eine Stunde eher ins Bett, für noch gesündere Zähne, für 30 Minuten Aufräumen, für körpergesund und dafür seelenkrank.

Ich habe mich eingependelt im Grenzland, wo die Grenzen aufeinander treffen. Und da ich über mich bestimme, bin ich auch der Souverän, der die eigenen Grenzlinien hin- und herschieben kann. Das ist kein Nachgeben! Das ist Augenzwinkern, Halb-So-Wild, Friede, Harmonie. Es sieht so aus, als wäre ich großzügig, einfühlsam, tolerant.

Es ist eine andere Quelle: Ich billige mir alle möglichen Liebenswürdigkeiten zu, ich liebe meine Macken – und das kann ich auch den anderen lassen. Auch den Kindern. Ich weiß, wie gut das tut. Ich habe Grenzen, die flexibel sind. Je nachdem. Und wenn sie hart sind, dann ist es eben so ein Tag. Wir nehmen uns unsere Grenzen nicht so übel, weil sie keiner zur heiligen Kuh macht.


 

Montag, 20. Oktober 2025

Und sie atmet durch und läuft erleichtert auf mich zu

 

 

Wir sind im Wald. Klara (6) und Kolja (4) legen gelbe Blätter auf dem Waldboden zu Linien und Kreisen, sie malen mit den Herbstblättern. Es sieht nicht nach Natur aus sondern nach Kultur. Nach Kunst. Kunst im Wald.

Die Kinder spielen. Ist Kunst Spielen, verspielt? Ich habe immer mitbekommen, dass Kunst mit einem hohen Anspruch daherkommt. Picasso, Rembrandt, Beethoven, Mozart – das ist Hochkultur, Kunst. Die Wasserfarbenbilder der Kinder, das Graffiti an der Mülltonne: das ist keine Kunst.

Wie relativ darf es sein in der Kunst? Wann kommt der Kitsch um die Ecke? Wann der Unsinn? Woran lässt sich erkennen, ob es Kunst ist oder nicht? An den Unis wird Kunst gelehrt, es gibt Kunstschmiede und Kunsthandwerk, Kunsthonig und Kunstseide. Es gibt Künstler und gekünstelte Sprache, Kunstauktionen und Kunstfälscher. „Ist doch keine Kunst“ und „Jeder Mensch ist ein Künstler“.

Was soll ich davon halten? Von dem ganzen Tamtam, der um die Kunst gemacht wird? Es nervt mich, wenn irgendein objektiver Anspruch im Spiel ist, sowieso, aber auch bei der Kunst. Im Kunstunterricht in der Schule bekam ich für ein Bild nur eine Drei, und dabei fand ich mein Bild super und voller Ideen. Spinnt er, der Kunstlehrer? Sein Sohn war in meiner Klasse und bekam für alles, was er ablieferte, eine Eins, immer! Da ging ich auf Distanz zur Kunst.

Das war doch alles eine absurde abgekartete Sache, irgendwelche Schriftgelehrten legten fest, was Kunst ist und was es eben nicht ist. Kirchenfenster, documenta, Mona Lisa: Ja was denn nun? Kunst ist offensichtlich Kunst. Da weiß man Bescheid, und die Herren und Damen Künstler sowieso.

Echt jetzt, da soll er doch malen. Oder dichten. Oder komponieren, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Als sein eigener Meister. Und dann kann er mir zeigen oder vorführen, was Sache ist. Gefällt mir, oder nicht. Und fertig. Was soll das Gelaber von „Kunst“ dabei?

Ich finde das seltsam übergriffig, wenn jemand seine gebastelten Dinge als Kunst rüberbringt. Mit einem hohen Anspruch versieht. Wenn sie in Altamira ihre Tierchen an die Wand bringen: Ist ihr gutes Recht, sind ihre Erinnerungen, Visionen, Botschaften. Das kann ich respektieren, so wie ich den Menschen respektiere und achte, der damit unterwegs war. Aber in Ehrfurcht erstarren? Da macht jemand sein Ding. Gefällt mir, Beifall klatschen und staunen. Oder gefällt mir eben nicht. 

Wie immer bin ich auch in Sachen Kunst mein eigener Chef und lass mich nicht ins Bockshorn jagen. Es ist in der Kunst so wie sonst auch: Entweder spielt sich das alles in einem Oben-Unten-Raum ab mit objektiven Maßstäben. Oder es bleibt in der postmodernen Welt, in der nichts über dem anderen steht und alles gleichwertig ist. Mit subjektiven Vorlieben und Unlieben.

Klar ist der eine geschickter mit der Hand und dem Kopf als der andere. Und wenn es mir gefällt, höre ich gern zu und sehe ich gern zu. Ich mag klassische Musik, impressionistische Bilder, Blätter auf dem Waldboden. „Spiel mit mir“ sagen die Töne, die Farben, die Blätter. Es ist ein leichtes und heiteres Geschehen. „Mach mit“ rufe ich der Kunst zu, und sie atmet durch und läuft erleichtert auf mich zu. „Du erstarrst nicht in Ehrfurcht vor mir?“ „Nein“, sage ich. „Endlich“ antwortet sie. „Na klar doch“, sage ich, „und was machen wir heute?“


 

Montag, 13. Oktober 2025

Die mit ihrer Wucht im Dunkeln liegt

 

 

Ich bin im Dunkeln mit den Kindernzum Geocachen unterwegs. Wir suchen eine versteckte Dose mit Hilfe von Koordinaten. Es ist ein Internetspiel, das draußen umgesetzt wird. Wir suchen also, diesmal im Bürgerpark. Der Wachdienst hat uns erspät, kommt heran: Was machen Sie da?“

Das ist schon eine seltsame Anmutung. Strecke ich dem Mann des Wachdiensts die Zunge raus? Was hat der mich zu fragen, uns im Spiel zu stören? Die Antwort „Wer sind Sie denn?“ und „Was geht Sie das an?“ kommt hoch, aber ich stopfe sie wieder runter. Ich erkläre ihm freundlich, was wir hier tun. Er hört zu, seine Harschheit verfliegt, „Dann viel Erfolg.“ Wir sollen den Park verlassen, er hat schon geschlossen.

Wie oft fragen wir die Kinder, was sie da machen? Oft. Wie übergriffig ist das eigentlich? Wie kommen sich die Kinder vor? Ertappt? Überprüft? Geht uns das etwas an, was ein Kind macht? Wir sind da in einer Selbstverständlichkeit unterwegs. Wir bekommen mit, was die Kinder machen. Und wir fragen nach. Einfach und ungefragt.

Ich denke über die Balance nach, die so eine Fragerei und Ausfragerei in sich tragen. Big Brother oder Ausdruck unserer Liebe? Die Kinder sollen nicht zu Schaden kommen. Die Dinge, mit denen sich die Kinder beschäftigen, sollen nicht zu Schaden kommen. Die Familienregeln sollen auch nicht zu Schaden kommen. Die moralischen und gesellschaftlichen Benimme auch nicht. Oh, là, là. Was es da nicht alles zu zerdeppern gibt. Was es da nicht alles aufzupassen gibt.

Muss ich Auskunft geben, wenn mich jemand fragt, was ich mache, was ich da mache? Muss ich nicht. Müssen die Kinder das? Tja – irgendwie schon. „Zeig her"“, „Mach den Mund auf“, „Was hast Du da?“, „Wohin willst Du?“ Und so weiter und so fort. Wem gehören die Kinder, ihr Tun und Lassen? Ab wann wird es unfreundlich und unerfreulich mit unserer Einmischung?

Der Wachdienst stößt mich auf dieses Thema. Gibt mir zu denken. „Was machst Du da?“ will sensibel gehändelt werden. Ich bin nachdenklich. Die harschen Töne nehme ich dem Wachmann nicht übel. Er hat mir eine Tür gezeigt, die mit ihrer Wucht im Dunkeln liegt. Und die ich jetzt sehe und mit neuer Vorsicht öffnen oder einfach geschlossen lassen kann.

 

Montag, 6. Oktober 2025

Ich ertrage sie nicht, ich trage sie

 

 

Klara (6) und Kolja (4) sind zu Besuch. Alles läuft gut, doch dann will Kolja auch mal den Leuchtstab haben, den Klara hat. Aus meiner Sicht berechtigt, Klara spielt damit seit 10 Minuten. Koljas Bitte wird nachdrücklicher, Klara rückt ihn nicht raus. Es kommt zum Streit. Lauter Streit, Tränen.

Soll ich intervenieren? Das „Kolja ist jetzt auch mal dran“ ist da, es ruft mich auf. Aber ich will das nicht von mir aus tun. Fände ich irgendwie unpassend, unhöflich. So eine Intervention sagt für meine Ohren im Subtext: „Ihr könnt Eure Konflikte nicht allein lösen. Ihr seid da unzuverlässig. Nicht vertrauenswürdig. Unfähig. Kinder eben, die das noch nicht können.“ Ich wäre die Ordnungsmacht. Meine Intervention käme mir übergriffig vor.

Lasse ich die Kinder im Stich? Bin ich herzlos, unsensibel? „Du kannst doch nicht einfach nur zusehen, wenn sie sich streiten und nicht weiterwissen."“ Das hör ich schon. Doch ich sehe nicht nur zu. Ich sehe zu ohne „nur“. Ich bin ja da, und sie sehen mich. Ich schicke Freundliches, Anteilnahme. Ich schicke keine Ungeduld, Vorwurf, Grummel. Und ich bin ja da, wenn sie mich zu Hilfe rufen sollten. Und auch ein „Soll ich Euch helfen?“ ist schon viel zu viel Einmischen, stößt sie aus ihrer Konzentration aufeinander.

Nein, ich trage ihren Streit, ihr Geschrei, ihre Tränen. Ich ertrage sie nicht, ich trage sie. Und all die vielen üblichen Möglichkeiten, die an mich heranwabern, schicke ich weg, auch freundlich und gelassen. Möglichkeiten: Den weinenden Kolja auf den Arm nehmen, Klara ins Gewissen reden, „Wenn ihr Euch nicht einigt, verschwindet der Leuchtstab mal für eine Weile“, Ablenkungsmanöver starten, sie rausholen aus der Situation („Wir gehen jetzt in den Wald“), Thematisieren Streit und Gerechtigkeit, usw.

Ich habe Geduld, krame in der Küche weiter rum. Klara behält den Stab, aber auch sie hat Tränen in den Augen. Es wird ruhiger, es wird still. Dann höre ich an ihren Stimmen, dass sie sich nicht mehr Gram sind, sie verhandeln irgendetwas, dass nicht mit dem Leuchtstab zu tun hat. Sie kommen zu mir, suchen meine Nähe, und wir besprechen, ob wir rausgehen. Der Stab in Klaras Hand hält die Klappe.

Einen Satz sage ich ihnen aber doch. Ich habe ihre Gesichter beim Streit gesehen. „Wir tun etwas Ungehöriges.“ Beschämtsein, Schuldgefühl. Schnute, Blick auf den Boden. Ich sage ihnen: „Bei mir könnt Ihr auch streiten. Das ist ok. Da gibt es keine Schimpfe.“ Mir liegt daran, ein Pflaster zu kleben, ein Trostbonbon zu geben, Sonnenstrahlen zu schicken.

Und ich freue mich: Ich habe sie nicht aus ihrer Balance gestoßen, ich habe ihre Souveränität nicht angetastet. Ich habe den Pfad ihrer Würde nicht verlassen: „Auch wenn Ihr streitet und schreit und Tränen fließen – Ihr seid Menschen mit einer Würdekrone.“ Ich weiß aber auch, dass ich das nur kann, weil mich ihre Töne, Emotionen, Kinderbotschaften, Signale aus meiner eigenen Kindheit nicht verwirren, zum Intervenieren drängen.