Montag, 22. Juli 2019

Sommerpause und Blog-Archiv







In den Sommerferien komme ich nicht dazu, einen neuen Post zu schreiben. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr ja in den alten Posts (unten rechts ist das Blog-Archiv) ein wenig herumstöbern und mir hier Eure Kommentare schreiben: "Mein Kommentar zum Post xy vom ..." Ich lese alle und beantworte alle! Im September geht es dann wieder los mit einem neuen Post.

Habt eine schöne Sommerzeit! Euer Hubertus


Montag, 15. Juli 2019

Spielst Du mit mir?







Ich bin mit meiner Tochter und ihren Kindern im Wildgehege unterwegs. Nach einer Weile: "Spielst Du mit mir?" Mein dreijähriger Enkel will nicht die Tiere, nicht sein Laufrad, er will mich. Ich aber will mich grade ausruhen, ein bisschen herumgehen, ein bisschen Quatschen, ein bisschen Tiere, ein bisschen Family. Aber Spielen? Das braucht Konzentration, Aktion, Fantasie und Geduld. Was will ich?

Ich höre meinen Wunsch nach ruhiger Kugel, ich höre seinen Wunsch nach mir. Was Ende der Kugel heißt, was Kinderwelt heißt, irgendwie anstrengend. Ok, sage ich mir, na gut, und ich lass mich breitschlagen, fühl mich auch vom Kinderwunsch geehrt und vom Kind gemocht. Ich schließe meine Ruhetür und öffne die Spieltür.

Erst gibts ein Versteckspiel. Hinter den Bäumen und Büschen. Das ist lustig. Dann sind wir oben auf der Aussichtplattform für die Wildschweine. Da liegt ein Stock rum, schon gibts Angelspiel. Fische werden an Land gezogen. Im Herd gebraten, mit Öl. Und gegessen, mit Zitrone und Petersilie. Mindestens 20 Fische werden geangelt. Dann nochmal Verstecken. Das Ganze dauert eine halbe Stunde, danach wandern wir alle zurück zum Parkplatz.

"Spielst Du mit mir?" Das ist eine der schönen Fragen des Lebens. Wenn ich diesem Anruf folge, löst er mich aus meiner Ichwelt und bringt mich in die Wirwelt. Das ist zur richtigen Zeit, das ist zur falschen Zeit, das ist beglückend, das ist anstrengend - so, wie es gerade kommt.

Es ist so was wie Zeitverschwendung dabei. Überflüssiges. Kinderkram eben. Und es ist Erhabenes dabei, Wahrheit, Sinn. Ist Spielen nicht wichtiger als meine ganzen Alltagsaktivitäten und Geschäftigkeiten? Es ist wichtiger, aber das Spielen hat nicht oft die Chance. Heute aber war sie da, diese Lebenschance, ergriffen, erlebt, erfüllt.

"Spielst Du mit mir?" Wenn das Leben das an mich heranträgt und wenn ich das merke: dann ist es grandios. Dann beschwingt es mich, macht alles leicht, freundlich, unkompliziert. Ich lasse mich fallen in den Augenblick.

Wie immer geht es um die Frage, wer ich sein will. Ich entscheide das. Aber ich will auch gefragt und gelockt sein. Wenn ich ernsthaft und denkgelähmt unterwegs bin, hat das Spielen es schwer. Doch die Leichtigkeit des Seins gibt nicht auf, sie ist ja da, und umgarnt mich, hält zu mir, fängt mich ein - und ihr nachzugeben ist himmlich. Ich muss nur den Schritt durch die Spieltür hinbekommen. Bei den Kindern. Bei den Freunden. In der Partnerschaft (!).

Und das alles ist ja nicht "nur ein Spiel". Es ist Herz, Vertrauen und Liebe. Es sind die Momente, die in meinem Lebenstagebuch mit einem Stern versehen werden. Mein Enkel hat mich heute in diese Sternenwelt hineingezaubert.

Montag, 8. Juli 2019

"Damit niemand ihn leugnen kann" - Von Himmler zu Gauland







Ich lese in der Zeitung, dass wieder eine Zeitzeugin gestorben ist, die 101jährige Holocaust-Überlebende Henriette Cohen aus Frankreich. Der Tagesspiegel (27.6.): "Sie berichtete Jugendlichen von ihren Erfahrungen im Holocaust, 'damit niemand ihn leugnen kann.'"

Gaulands "Vogelschiss in der Geschichte" und der ganze braune AfD-Sumpf rumoren in mir. Mit den Kindern habe ich das Holocaust-Mahnmal in Berlin besucht. Auf einer Vortragsfahrt in Polen kam ich vor Jahren am Vernichtungslager Treblinka vorbei. Schindlers Liste. Klassenfahrt meines Sohns nach Auschwitz. Mein Großvater versteckte unter Lebensgefahr einen Juden in der Scheune, bekam für die Verweigerung des Hitlergrußes Gefängnis.

Will sagen: das alles ist ein Teil von mir, der durch Henriette Cohens Tod präsenter ist als sonst. Ich nehm mir Zeit, geh zum Bücherregal. "Der SS-Staat - Das System der Deutschen Konzentrationslager" von Eugen Kogon von 1946, ich schlage zufällig die Seite 159 auf:

   "Zum Abschluß dieses grauenvollen Kapitels sei noch das Bunker-Martyrium des Bekenntnispfarrers Schneider wiedergegeben, weil es die Zusammenarbeit Sommers (SS-Hauptscharführer) mit SS-Ärzten und die abgründige Heuchelei aufzeigt, die das System mit seiner Barbarei verband."

   "Im September 1937 wurde Pfarrer Schneider nach Buchenwald gebracht. Als er bei der damals eine Zeitlang üblichen Flaggenparade, das heißt dem täglichen Hissen der Nazifahne, nicht die Mütze abnahm, erhielt er sofort 25 Stockhiebe und wurde in den Bunker geworfen. Dort blieb er mehr als 18 Monate, bis er nach qualvollem Leiden endlich ermordet wurde... Bei jedem Öffnen von Sommer mit dem Ochsenziemer (Schlagwaffe, bis 100 cm lang und schwer) geschlagen wurde... Später war die Zelle ständig verdunkelt ... Am Boden stand das Wasser 5 cm hoch, die Wände waren völlig naß... Am ganzen Körper hatte er bis zu faustgroße Löcher von Schlägen. Die Wunden eiterten ständig, da er selbstverständlich kein Verbandszeug oder Ähnliches zum Behandeln erhielt. Es ist beinahe unfaßbar, daß ein Mensch ein derartiges Martyrium so lange aushalten konnte. Gerade das scheint Sommer  besonders gereizt zu haben. Er wollte ihn absolut nicht einfach töten, sondern einfach zu Tode quälen... Als es Sommer schließlich doch zu lange dauerte, gab er ihm eines Tages ein Herzlähmungsmittel in das Essen... wirke das Mittel nicht... Herzstärkungsmittel... gleichzeitig eiskalte Wickel, die so lange erneuert wurden, bis er einen Herzkollaps bekam und starb. Noch am Tage vor seinem Tod wurde er von Sommer mit dem Ochsenziemer geprügelt."

   "Pfarrer Schneiders Frau und Kinder baten die Kommandantur, ihren toten Mann und Vater noch einmal sehen zu dürfen, was von Koch (Lagerkommandant) aus Propagandagründen genehmigt wurde! Um die entsetzliche Entstellung der Leiche zu verdecken, wurde der tote Kamerad von einem SS-Friseur geschminkt und bekam eine Perücke aufgesetzt! Dann wurde er unter Blumenschmuck feierlich in der Truppengarage aufgebahrt. Nachderm die Familie unter Tränen von ihrem Vater Abschied genommen hatte, wurden die Angehörigen von Koch hinausgeleitet. Bei der Verabschiedung sagte er zu Frau Schneider: 'Ihr Mann war mein bester Häftling. Gerade, als ich ihm seine Entlassung mitteilen wollte, starb er an Herzschlag!'"

Das war konkret. Auf der Ideologieebene geht das so: Heinrich Himmler, Reichsführer der SS,  am 4. Oktober 1943 vor SS-Führern:

   "Es ist grundfalsch, wenn wir unsere ganze harmlose Seele mit Gemüt, wenn wir unsere Gutmütigkeit, unseren Idealismus, in fremde Völker hineintragen... Ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Bluts zu sein und zu sonst niemandem. Wie es dem Russen geht, wie es dem Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker im Wohlstand leben oder sie verrecken in Hunger, das interessiert mich nur insoweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens zehntausend russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. Wir werden niemals roh oder herzlos sein, wo es nicht sein muß; das ist klar. Wir Deutsche, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen."

    "Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen. Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden... Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. "Das jüdische Volk wird ausgerottet", sagt ein jeder Parteigenosse, "ganz klar, steht in unserem Programm. Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir." Und dann kommen sie alle an, die braven achtzig Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn hundert Leichen beisammen liegen, wenn fünfhundert daliegen oder wenn tausend daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte."

*

 ... "Sie berichtete Jugendlichen von ihren Erfahrungen im Holocaust, 'damit niemand ihn leugnen kann.'" ...










Montag, 1. Juli 2019

Saint-Exupéry: Fuchs, Rose und Verantwortung





    "Du bist für das verantwortlich, was Du Dir vertraut gemacht hast." Es geht im Buch "Der kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry um die Rose, und der Fuchs sagt dem Kleinen Prinzen diesen Satz. Den er sich merken will.

    Wenn ich mit etwas oder mit jemandem zu tun habe - entsteht daraus eine Verantwortung? Der Satz aus dem Buch von Saint-Exupéry ist mir neulich wieder begegnet. Ich kenne ihn, und ich erlebe dabei ein süßes Gift. "Ja, stimmt" ist eine wohlige und süße Reaktion. Verantwortlich für jemanden sein fühlt sich gut an - für den Verantwortlichen, den Prinzen. Er kann ein guter Kümmerer sein. Und auch für die verantwortungsbedachte Rose fühlt es sich gut an, sie kann sich geborgen fühlen. Beide sind ein gutes Paar, sie passen zueinander: Er sorgt sich, sie fühlt sich bedacht.

    Aber. Für mich hat das ganze Szenario keinen guten Grund. Da schwingt etwas mit, das für mich einfach nicht geht. Es ist verdeckt, tritt nicht deutlich hervor, dieses Ungute. Die Süßigkeit dieses Statements und die Welt, in die dieser Satz einführt, sind ungut. Wohlig, aber ungut, süßes Gift eben.

    Der Satz hat Lähmendes. Er macht unfrei, enthält Fesseln. Die zu merken schwer fällt, die abzulegen erst recht schwer fällt. Der Satz kommt mit einer riesigen selbstgewissen Macht des Richtigen daher, mit einer Großmoral. Es fallen mir sofort Babys ein - da geht mir bei diesem Satz das Herz auf: Ja, ich habe es mir vertraut gemacht und bin für das Baby verantwortlich. Das stimmt doch - wo ist das Aber?

    Die ganze geistige Welt unserer Kultur und Tradition stehen hinter diesem Satz. Ja - und genau das ist das Problem. Die Kultur, die diesen Satz hervorbringt und auf die dieser Satz gebaut ist, ist von einem Klang der Macht erfüllt. Von jemandem, der bestimmt, wo es lang geht. Der das nicht nur für sich bestimmt, sondern der das auch für andere bestimmt. Wie gehabt: Mensch über Natur, Mann über Frau, Weiß über Schwarz, Erwachsener über Kind. Hier dann: Prinz über Rose,

    "Ich bin für Dich verantwortlich" (weil ich Dich mir vertraut gemacht habe) setzt mich über Dich. Es ist das Stückchen mehr als das "Ich kümmere mich um Dich, ich sorge für Dich" und noch viel mehr als das "Ich liebe Dich". Verantwortlichsein gibt mir Legitimation. Neben dem ganzen Pflichtszenario (Baby füttern, Rose gießen) auch die Bestimmerei: Dies und das ist gut für Dich, ich entscheide das. Ich folge nicht nur dem Offensichtlichen (wickeln - sonst Entzündung, gießen - sonst vertrocknen). Ich bin legitimiert und in der Pflicht des Guten, durchzuführen, was der Verantwortung entspricht. Der Verantwortung, die ich erkenne und die mich zu Dies und Das führt.

    Aber. Ich - Hubertus - erkenne ja auch zig Dinge, die ich tun will mit Dir und die ich richtig finde. Nur greifen sie nicht über das hinaus, was "angemessen" ist. Will sagen: Ich nehme nicht für mich in Anspruch, die Verantwortung für Dich zu übernehmen. Verantwortung für Dich übernehmen: Das hat in meinen Ohren einen entmündigenden Klang. Überhebliches. Macht eben. Aus der patriarchalischen Tradition.

    "Du kannst Dich um das kümmern, was sich Dir anvertraut hat" - Wie wäre es denn damit, Herr Fuchs? Wenn sich unsere Herzen zuneigen: klar tue ich etwas dafür, dass Du Dich wohl fühlst und bleibst. Aber ob Du Dich wohlfühlst und bleibst, ist nicht meine Verantwortung, sondern Deine. Würde ich mich verantwortlich fühlen, nähme ich Dir die Verantwortung weg. Es wäre ein Verantwortungsdiebstahl.

    Der Fuchs stiftet zu Unterdrückung und Verantwortungsdiebstahl an. Er torpediert die Souveränitaät der Rose und die Freiheit des Prinzen. Gleiche Augenhöhe von Prinz und Rose sind nicht angesagt. Kümmerer oben, Gekümmerte unten. Das stört mich. Ich weiß, dass das die Tradition unserer Kultur ist. Aber diese Tradition passt mir nicht.

    Ich will mich kümmern und da sein, sorgen und hegen, wickeln und gießen. Weil ich das will, weil es meinen Werten entspricht, weil ich so Leid vermindern und Freude bereiten kann. Immer gemessen an dem, wie ich es einschätze. Da erhebt sich nichts über den andern. Das ist dabei auch nicht kraftlos oder unsicher, das kommt durchaus auch resolut und ungefragt daher. Aber der ganze Sound ist der von Gleich zu Gleich. Bei Saint-Exupéry klingt das für mich gänzlich anders.

    Die ganze Verantwortungsthematik wird auf meinen Veranstaltungen immer wieder zum Problem. Wer verankert (sprich: gefangen) ist im (durchaus auch gutgemeinten) Oben-Unten hat keinen leichten Zugang zu meinem GleichzuGleich, in dem ich verankert bin und das genauso gut gemeint ist. Das einem Oben-Unten-Menschen nahezubringen, klar zu machen - immer wieder schwer bis unmöglich. Aber wer die befreiende Freude des GleichzuGleich einmal schmeckt oder wieder schmeckt, dem kann ich dabei helfen, sich diese Welt der Gleichwertigkeit zu erschließen.

    "Du bist für das verantwortlich, was Du Dir vertraut gemacht hast" - der Satz stimmt für mich nicht, weil der zweite Teil für mich nicht funktioniert: weil niemand sich etwas vertraut machen kann, wenn er im Land des GleichzuGleich lebt. Da macht man sich nichts vertraut, was heißt: macht niemandem von sich abhängig und untertan (um ihn dann als Guter zu bedienen, als Böser auszubeuten). Ich mache mir nichts vertraut. Wiewohl Du mir vertraut bist und ich Dir vertraut bin, und wir im Vertrauen miteinander unterwegs sind.

    Ich verlasse nicht Vertrauen, Öffnen, Sichhingeben. Es geht für mich eben nur so: Du vertraust Dich mir an, ich vertrau mich Dir an. Klare und andere Zuständigkeiten als beim Fuchs. Der Fuchs legt dem Kleinen Prinzen eine Pflicht nahe, welche die Rose entmündigt. So spricht ein Herrscher, kein Gleichwertiger. Ich hingegen schwinge mit Dir im GleichzuGleich.

    "Du kannst Dich um Deine Rose kümmern, wenn Du sie liebst und wenn sie sich Dir anvertraut. Du bist nicht für sie verantwortlich - das ist sie selbst. Du bist für Dich verantwortlich."

    Willst Du sie gießen? Dann tu es. Wenn Du sie nicht gießt, stirbt sie. Willst du das? Wer bist Du? Wer bin ich - wer will ich sein? Was sind meine Werte? Dem folge ich auch im Zusammensein mit Dir. Nicht aus Verantwortung, sondern aus Liebe.