
Er nahm den Zollstock und
die Wasserwaage, kniete sich hin und maß nach. Maß nochmal nach,
und nochmal. Stand auf und schaute zum Kollegen im Bagger, dem mit
der großen Flachschaufel. Er machte ein Zeichen mit der Hand und
trat zur Seite.
Der Baggerfahrer verstand
die Handbewegung und fuhr ein bisschen nach links, setze die große
Schaufel vorsichtig auf und zog zentimetergenau die dunkle
Straßenerde nach hinten, in die Schaufel hinein, hob dann die
Schaufel, fuhr ein Stück zurück, dann zur Seite und kippte die
aufgeschrabbte Erde ab. Er, der Bauarbeiter, trat wieder vor, hockte
sich hin, nahm Zollstock und Wasserwaage und maß nach. Aufrichten,
Blickkontakt, Daumen nach oben, jetzt stimmte es.
Ich habe Yann (4) und
Johann (2) von der Kita abgeholt und wir sind mal wieder zur großen
Straßenbaustelle gewandert. Hier gibt es immer was zu sehen. Heute
wird der Straßenuntergrund geglättet, bevor in ein paar Tagen die
Asphaltmaschine drankommt. Es ist mitten auf der Straße in
Längsrichtung eine Schnur gespannt, vorn eine Stange im Boden,
hinten eine Stange in den Boden. Die Schnur zeigt die Höhe der
demnächst aufzutragenden Asphaltdecke an.
Vom Straßenuntergrund bis
zur Schnur (später: Asphaltdecke) müssen es exakt 15 Zentimeter
sein, und zwar die ganze Straßenbreite über. Der Mann vor uns misst
von der Schnur aus, hält die Wasserwaage von der Schnur zum
Zollstock. Und er misst auch vom Bordstein aus. Er wirft uns einen
Blick zu. Später kriegen wir mit, dass er Ivo heißt.
Ich bin fasziniert über
diese exakte Handarbeit der beiden Männer. Der Baggerfahrer bewegt
den Steuerknüppel in Millimeterbewegungen in alle Richtungen, und
die große Schaufel und die Räder, das ganze Riesenfahrzeug
antworten filigran. Große Sorgfalt und große Lässigkeit.
Da fahre ich auf einer
Straße einfach so dahin, tagtäglich, und denke mir nichts dabei.
Aber was für ein grandioser Hintergrund! Wie viele Gedanken,
Überlegungen, Bemühen, Zufriedenheit, Einverständnis, Freude,
große Pläne, kleine Pläne, Pläne bis ins Detail zu Schnur,
Zollstock, Wasserwaage, Stangen, Steuerknüppel, kurzer Blick, zur
Seite treten, wieder vorgehen, hinhocken, anfahren, zurückfahren.
Dann kommt der Baggerführer runter und sie reden kurz und lachen,
dann geht es weiter.
Mein Blick wandert, ich
bin aufgeweckt worden, wach für das, was so eine Straße alles in
sich birgt. 200 Meter weiter: Jeder der Bordsteine vor uns wird
penibel ausgerichtet, Schnur dabei, besondere Bordsteinzange,
gepolsterter Steinhammer zum Justieren, Steinsäge für den
Passstein. Dann kommt auf der Schulter das Spezialbetonpulver heran,
Papiersack abgelegt, Löcher mit dem Hammerstiel rein, Sack
aufgerissen, Betonpulver mit der Hand und ohne Handschuh rasch und
gekonnt an die Bordsteinwand gehäufelt, geglättet.
„Muss da nicht Wasser
drauf?“ Ich stelle Kontakt her. „Mache ich gleich“, und er holt
hinter dem Stapel eine Gießkanne vor, grün, wie für den Garten.
Wasser drauf, auch die Bordsteinkante wird schön sauber abgespült,
mehrmals, wirklich sauber. Wasser nachholen vom Kran 200 m vorn.
Wieso haben die keinen Schlauch gelegt? Meine stille Frage. Und meine
stille Antwort: Haben sie eben nicht. Stör nicht ihre Kreise. Du
siehst doch, in welcher Stimmigkeit, ja Harmonie sie unterwegs sind.
Also nochmal Wasser drauf. „Gute Arbeit!“ „Ja immer!“ Es ist
eine Zeremonie, ein heilig Tun.
Ivo: „Willst Du
mitmachen?“ „Nein", sagt Yann, „das habe ich doch nicht
gelernt.“ Sie quatschen ein bisschen. Und wir sind nicht allein.
Neben uns ist ein Vater, der seine Tochter auch auf die Absperrung
gesetzt hat: „Montag kommt die Asphaltmaschine, das wird
interessant.“ „Interessant ist das alles, was hier täglich
passiert“, sagt die Oma hinter mir, Enkel auf dem Arm, „der will
gar nicht mehr weg.“ „Es gibt Montag diesen einmaligen Geruch“
sage ich, „den vergessen die Kinder ihr Leben nicht.“
So viele kleine Sequenzen,
kleine Ereignisse, kleine Erlebnisse, heute, hier beim Straßenbau.
Wann bin ich offen für diese unendliche Vielfalt um mich herum? Ich
düse normalerweise so durch den Tag. Aber ab und zu komme ich in
diesen besonderen Modus. Dann sehe ich alles mit der Lebenslupe. Wenn
ich im Wald bei der Gymnastik das gelbe Herbstblatt neben meinem Fuß
sehe und es nicht übersehe. Wenn ich die drei Schritte des Nachbarn
zu seiner Garagentür sehe und sie nicht übersehe. Wenn ich die
Quittung in der Hand der Kassiererin sehe – „Wollen Sie die
Quittung?“ – und sie nicht übersehe, sondern die Zeit anhalte.
„Wollen Sie die Quittung?“ Worte, einfach so gesprochen in den
Strom der Zeit. Ich habe sie gespeichert für die Ewigkeit.