Montag, 28. Juli 2025

...wenn die Menschen über ihr Denken selbst bestimmen können.

 

 

Unsere Zivilisation beruht auf bestimmten geistigen Leistungen, etwa dem Wissen, um Brücken, Kühlschränke, Fernseher und Raketen bauen zu können. Doch dieses Wissen kommt aus dem Zwang, den die Erwachsenen mit der Schulpflicht der nachwachsenden Generation auferlegt. 

Unsere Zivilisation beruht auf der geistigen Versklavung unserer eigenen Kinder – nichts, worauf wir stolz sein können, und nichts, das sich nicht ändern ließe.

Lernen Kinder denn ohne Schulpflicht das, was wichtig ist ? Wichtig für wen? Für die Erwachsenen? Die Kinder werden das lernen, was aus ihrer eigenen Sicht wichtig zu lernen ist.

Die Verhältnisse werden sicher anders sein, wenn Menschen über ihr Denken selbst bestimmen können, und das ist nur für die zum Nachteil, die die Macht nicht teilen wollen. Das selbstbestimmte, von innen kommende Lernen ist ein wertvoller Schatz der Menschheit, der gehoben werden muss, wenn die anstehenden Probleme sinnvoll gelöst werden sollen.

Vielleicht wird die Post dann nicht mehr in einem Tag von Hamburg nach München befördert werden können – die Menschen werden selbst entscheiden, was ihre Lebensqualität ausmachen soll und was nicht.

 

 

Montag, 21. Juli 2025

Komm von der Mauer runter!

 
 

 „Es könnte doch etwas passieren!“ Wir sind besorgt, dass die Kinder zu Schaden kommen. Erwachsene sind für Kinder verantwortlich.

Sebastian balanciert auf der Mauer. Lina sammelt alte Flaschen. Manuel will Eis essen. Alexander fährt Rad. Jana klettert auf den Baum.

Die Verantwortung, die Erwachsene im Umgang mit Kindern übernehmen, beeinflusst das Erleben mit ihnen. „Komm von der Mauer runter!“ - „Lass die Scherben liegen!“ - „Nicht noch ein Eis!“ - „Fahr langsamer!“ - „Nicht so hoch!“ Die Angst davor, als unverantwortlich zu erscheinen, lässt die Erwachsenen zu Kindern so reden und mit ihnen umgehen, als seien sie nicht in der Lage, die Risiken ihres Tuns selbst einzuschätzen. Diese Angst lässt Erwachsene auf Kinder reagieren wie auf Noch-Nicht-Menschen. So, als seien Kinder unfertige und zur eigenen Verantwortung unfähige Wesen.

„Stimmt doch auch!“ Ich sehe das anders. All das, was Erwachsene veranlasst, aus Verantwortung einzugreifen, zu erklären, zu mahnen, zu verbieten - all das regeln die Kinder selbst, ohne Erwachsene, wenn sie unter sich sind. Sie tun es sinnvoll, in Abschätzung ihrer Möglichkeiten und der Realität ringsum. Und sie tun es täglich, viele Stunden lang.

Sie klettern allein auf der Mauer rum. Sie fassen diese Glasscherbe an und viele andere noch. Sie essen soviel davon und soviel hiervon. Ein Sturz mit dem Fahrrad hindert sie nicht, die nächste Runde zu drehen. Sie brechen sich den Arm, ohne dass die Welt untergeht.

Sie regeln ihre Dinge selbst, so wie sie es sich zutrauen und vor sich selbst verantworten. Und sicher kommt es dabei auch immer wieder zu Fehleinschätzungen - wie bei den Erwachsenen. Hören wir auf mit dem Auto zu fahren, wenn wir einen Unfall verursacht haben? Natürlich nicht, wir sagen: „Beim nächsten Mal passe ich besser auf.“ Und genau das können wir auch den Kindern zugestehen. Ohne für sie die Verantwortung zu haben, zu übernehmen - ohne ihnen ihre Verantwortung zu nehmen, wegzunehmen.

Die Kinder tun täglich ihre Dinge. Erwachsene lassen Kinder in ihren Vorstellungen aber nicht unter sich sein. Wenn wir an Kinder denken, dann immer in Bezug zu uns. Aber sie haben auch ihr eigenes Leben, mit einer eigenen Selbstverantwortlichkeit. Und wenn sie es dann mit uns zu tun bekommen, soll diese Selbstverantwortlichkeit einfach nicht mehr existieren?

Selbstverständlich ist sie dann noch da. Es ist merkwürdig, dass Erwachsene sie nicht wahrnehmen. Und ist es nicht seltsam, dass wir sofort mit unserer Verantwortung dahergestürmt kommen, wenn Kinder um uns sind? Warum? Wie gebannt bemerken wir nicht die Wirklichkeit der Kinder, in der ihre eigene Verantwortung einen festen Platz hat.

Was ist los mit den Erwachsenen? Weshalb verzichten wir darauf, Kinder als selbstverantwortliche Menschen zu sehen? Weshalb akzeptieren wir, dass Erwachsene verantwortlich für Kinder sind? Weshalb lassen wir uns in der Beziehung zu Kindern von dieser Verantwortung in Beschlag nehmen - die ursprünglich bei den Kindern selbst ist, die wir ihnen wegnehmen und uns aufbürden?

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Der Text stammt, leicht verändert, aus meinem Buch "Kinder der Morgenröte", Münster 2004, S. 23ff

Montag, 14. Juli 2025

Sie hat das Herauskommen aus dem Wasser ihm überlassen




Eine Mutter erzählte mir: „Mein Sohn (8) war allein unterwegs und hatte Krach mit einem Erwachsenen, einem Freund der Familie. Hätte ich mich einmischen sollen?“

Die Kinder geraten immer wieder mal in unangenehme oder auch gefährliche Situationen. So etwas bricht über sie herein, oder sie haben ihren Anteil daran. In diesem Fall hatte der Sohn den Freund der Familie durch sein Verhalten verärgert, er wurde schließlich angefaucht. Und kam empört zu seiner Mutter.

Wenn die Kinder mit anderen unterwegs sind, ist das schön, aber auch voller Risiken. Das Balancieren über das Brückengeländer ist voll prickelndem Reiz, aber auch voll Risiko. Wenn der Junge dabei ins Wasser fällt, helfen Eltern ihm heraus, keine Frage. Aber hier? Soll sie zu dem Freund hingehen und die Wogen glätten? Oder kann das Kind allein herauskommen, wenn es in so ein Beziehungsgewässer gefallen ist?

Falsch machen geht nicht. Die Mutter kann intervenieren oder die Sache bei ihrem Sohn lassen. Es kommt wie immer darauf an, was man will. Sie erzählte, dass sie gespürt hat, das Ganze ihrem Kind zu überlassen. Ihr Sohn war angefasst und kam zu ihr. Beschwerde. Ein Eingreifen lag in der Luft. Aber sie hat es eben anders gemacht. Sie hat das Herauskommen aus dem Wasser ihm überlassen. War eigentlich seine Sache. Einmischen fühlte sich übergriffig an. „Es gehört ihm und er schafft das schon.“ Und so kam es auch. Ihr Sohn kam wieder runter, und nach einer Weile ging er zu dem Erwachsenen zurück „um das mit ihm zu besprechen“.

Fand ich beeindruckend. Von der Mutter: nicht hinstürzen, sondern erst mal schauen, was wirklich Sache ist. Was Sache ist bei ihr und ihren Mutterhelfegefühlen und bei ihm und seinem „Kann ich selbst hinkriegen“. Das feine Hinhören fand ich beeindruckend. Das Zuwarten. Das Offenhalten einer Tür. Es wäre nichts dabei gewesen, sofort zu intervenieren – wenn ihr Gefühl so ist. Aber sie hat eben den anderen Weg genommen.

Ich habe dann überlegt, dass wir Eltern oft, ganz oft, ich sage: viel zu oft anspringen, wenn die Kinder mit einem Beschwer daherkommen. Dann verpassen wir, dass die Beschwernisse der Kinder eben auch ihnen gehören. Ich bin dann schon in Hab-Acht-Position. Aber ich muss meinem Kind sein Beschwer nicht sofort, auf der Stelle aus der Hand nehmen (auf dass es ihm besser gehen möge).

Ich kann in gewissen Respekt vor dem Beschwer sein – dem kaputten Knie, dem Wasserfall, dem Anfauchen. Ich meine, es sind Geschehnisse aus der Welt meines Kindes. Sie gehören ihm. Ich nehme sie nicht fort aus seiner Welt, ziehe sie nicht rüber in meinen Bereich, ich vereinnahme sie nicht. Weiter: Ich vereinnahme mein Kind nicht. Wiewohl die Gelegenheit günstig ist und der Reiz groß.

Wie viel achtungsvolle Distanz haben wir unseren Kindern und ihrer Welt gegenüber? Kann man da sensibel sein? Lässt sich erkennen, was mein und was dein ist? Wie viel Verstrickung ist gesponnen, wie viel lässt sich überhaupt bemerken? (Was ja auch unter Partnern und Freunden ein großes Thema ist.) 

Ich habe das Gefühl, dass die Mutter eine gute Botschaft gesendet hat. „Okay, ich hör Dir zu und ich bin da.“ Sie hat noch nicht einmal mitgesendet „Brauchst Du mich?“ Sie hat einfach nur schwingen lassen, dass sie da ist, dass er nicht allein ist, dass er sich auf sie verlassen kann. Was ihm offensichtlich gereicht hat. Was ihn nicht weggekippt hat aus seiner Sphäre, verlockt hat, den schlappmachenden Süßeweg in ihre Arme zu nehmen. Den alle Kinder kennen, gut kennen. Der oftundoft nötig aber eben auch so süchtevoll ist. 

Der Junge konnte bei sich und seiner Power bleiben. Er trug sich nach einer Verschnaufzeit zurück ins Getümmel. In die Welt der Beziehungen, ins wilde Leben.


 

Montag, 7. Juli 2025

Vom kleinen bösen Wolf

 

 


Jeder kennt Rotkäppchen: Es begegnet im Wald dem bösen Wolf.

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Die Tradition lehrt, dass in der Wiege ein kleiner Wolf liegt. „Pass auf, dass aus ihm nicht ein großer böser Wolf wird! Menschen sind gefährlich, das Böse ist in ihnen. Sie müssen durch Erziehung zu sozialen Wesen gemacht werden!“

Hinter dieser Sicht steht die überkommene patriarchalische Auffassung, dass die Welt nicht als Einheit existiert, sondern in vielfältige Gegensätze aufgeteilt ist. So auch in das Gute auf der einen und in das Böse auf der anderen Seite. Und die erzieherische Grundposition ist dabei auf das Böse – im Menschen – fixiert, das es – durch Erziehung – auszutreiben gilt

Doch man kann das auch gänzlich anders sehen. Von der postmodernen Gleichwertigkeit aus, jenseits eines Gegensatzes von Gut und Böse. Menschen sind konstruktiv. Von Geburt an, Ebenbilder Gottes. Beauftragt, sich um das Kind zu kümmern, das ein jeder selbst ist – als Teil des Ganzen. Auch als Teil des sozialen Ganzen. Und wer sich um sich selbst kümmert, kümmert sich auch um den anderen, denn er ist ein Teil von ihm.

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Der Wolf ist gefährlich – nur: böse ist er nicht.