Montag, 26. Mai 2025

...dass ich in scheinheiliger Selbstverständlichkeit ihr Menschenrecht beuge.

 

 

 

 

Schultagebuch*

Klasse 6a. Ich bespreche die Notengebung in Bio. Ich schlage vor, dass sie sich selbst einschätzen und dass ich ihre Selbsteinschätzung überprüfe. Sie sind einverstanden. Ich bemühe mich, nicht missverstanden zu werden. Sie müssen sich so einschätzen, „wie ihr es verdient“. Dass Notengeben Unsinn ist, ist mir klar – aber das steht jetzt nicht an. Die Liste geht herum, jeder trägt sich ein. Als ich sie zurückbekomme, ist sie bunt ausgefüllt. Bunt, Filzstiftfarben. Signalisiert mir dieses bunte Papier, dass ich es geschafft haben könnte, den Terror mit den Noten etwas zu entschärfen? Die Noten bleiben ja – aber es ist schon ein wenig anders so.

Ich weiß dabei, dass die ganze Notensache zum Fundament der Inhumanität der Schule gehört. Wie soll sich jemals zwischen einem Erwachsenen und einem Kind eine vertrauensvolle, ehrliche und hilfreiche Beziehung entwickeln, wenn einer der beiden – der Erwachsene – den anderen „objektiv“ beurteilt? Nicht persönlich beurteilt, privat für sich, wie es zu einer Beziehung dazugehört, sondern offiziell, amtlich, mit riesigen Auswirkungen für den anderen? Kontrolle ist jeder förderlichen Kommunikation entgegengesetzt.

Bei den Noten zeigt sich mir die Grundkonstruktion der Schule überdeutlich: Herrschaft von Erwachsenen über Kinder, von Lehrern über Schüler, von staatlichen Funktionären über Bürger. Konkret heißt das: Ich sehe das Kind vor mir an, sage ihm meine Beurteilung – und es muss sich unterwerfen. Nie kann daraus etwas wirklich Förderndes und Hilfreiches werden!

Ich drehe an dieser Barbarei nun so, dass sie sich erst einmal selbst ihre Beurteilung geben und behalte mir das letzte Wort vor – vor allem als Absicherung nach außen. Aber ob sie sich überhaupt diesen Beurteilungen aussetzen wollen – das kann ich nicht fragen. Und doch liegt darin, dass sie dem Beurteilungsverfahren ohne gefragt zu werden ausgesetzt sind, die Anmaßung, die Missachtung, die undemokratische Willkür, die Inhumanität. Und ich realisiere dies!

Ich frage mich, ob ich gegen jede Beurteilung von Lernleistungen bin. Nein, bin ich nicht. Wogegen bin ich? Gegen die Herrschaftsausübung beim Beurteilen. Sie lässt sich aufheben, wenn die Beurteilung freiwillig und zustimmend durch den Beurteilten, also durch das Kind geschieht. „Die in der Schule erbrachten Leistungen müssen doch eingeschätzt werden können“ – unter Missachtung der Würde der Beurteilten? 

Kinder sind Menschen, und „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Grundgesetz Artikel 1) Ich, Lehrer, bin Teil der staatlichen Gewalt. Und was tue ich? Ich schäme mich vor diesen jungen Menschen, dass ich in scheinheiliger Selbstverständlichkeit ihr Menschenrecht beuge.

 

* H.v.S., Kinderkreis im Mai. Die Revolution der Schule, Münster 2006, S. 108 f. (Original: "Der Versuch, ein kinderfreundlicher Lehrer zu ein" 1980)