Montag, 28. Oktober 2024

Diversität ist unteilbar

 

 


Die vielfältigsten Gruppen treten heutzutage auf den Plan und werden beachtet. Erst einmal wird bemerkt, dass es sie überhaupt gibt, und dann wird ihnen Verständnis und Wertschätzung entgegengebracht. Ich reibe mir die Augen, was sich da alles so tummelt – aber klar, jede Gruppe hat ihre Berechtigung, und ich denke ihnen Aufmerksamkeit und Achtung zu. Das heißt „Diversität“.

Ich deklinier das mal durch: Wie denkt und fühlt ein Homosexueller, AfD-Mensch, Samoaner, IS-Kämpfer, Balletttänzer, undundund? Wie ist er unterwegs, wie sieht er die Welt? Wie komme ich mit so jemandem klar und in Kontakt und in guten Kontakt? "Wer bist Du?" Und davor/dagegen/dabei: "Wer bin ich?" Oft und immer wieder: Ich bin da jemand anderer als Du, klarer Unterschied. Aber es verbindet mich mit Dir die Achtung und Wertschätzung.

Ich bin da jemand anderer. Schwule Welt: Ich küsse keinen Mann - wiewohl Du das gern tust. Ich habe Achtung vor Deiner Homo-Welt, auch wenn ich sie nicht teile. Ich küsse Frauen. AfD-Welt: Ich halte Hitler und die Nazizeit für keinen Vogelschiss in der Geschichte – wiewohl Du das so siehst. Ich habe Achtung vor Deiner braunen Welt, auch wenn ich sie nicht teile. Ich verehre Anita Lasker-Wallfisch. Und so weiter.

Es gilt für mich und die anderen Gutmeinenden: niemand steht über dem anderen (egal wie der tickt), jeder hat aus seiner Sicht recht (egal wie schrill das für mich ist). Wobei für mich das auch gilt, auch ich habe aus meiner Sicht recht: Ich rücke von meiner Position nicht ab (ich küsse Frauen, verehre Anita). Und ich setze mich für meine Position ein, auch mit allem Nachdruck, wenn das nötig wird (weise den Schwulen, der mich küssen will, in die Schranken, weise dem AfDler lautstark zurecht). 

Wir lernen grade, die anderen, auch die so ganz anderen, aus ihrer Welt her zu verstehen. Wir lernen Pferde von ihrer Welt aus zu verstehen, ebenso Hunde und Katzen. Dazu gibt es seit 30 Jahren zig Literatur. Neuerdings Bäume. Der andere, auch der und das so ganz andere: wir nähern uns ihm.

Johann, 8 Monate: "Das da ist doch eine Schweineschnauze". "Geh da weg, das ist eine Steckdose". Diversität? Im Kinderzimmer? Es ist doch eigentlich so einfach.

Ist es eben nicht. Kinder werden nicht im guten Hype der überbordenden Diversität wahrgenommen. Sie sind zum Diversitätsspiel des Lebens nicht zugelassen. In Sachen Diversität hat sie niemand auf dem Schirm. Der diverse Respekt, die diverse Achtung, die diverse Wertschätzung vor der Andersartigkeit – fehlt im Kinderzimmer. Wie damals bei den Schwulen und wie heutzutage oft genug bei den AfDlern. 

Mit dem Diversitätsgedanken läßt sich doch etwas anfangen! Ich finde ihn einen guten Ansatz, um den pädagogisch orientierten Erwachsenen etwas von den amicativen Dingen zu erzählen. Vom Ende der Erziehung (in unserem konstruktiven Sinn), vom Überwinden des Adultismus, des Erwachsenen-Chauvinismus, des kulturellen Imperialismus, des pädagogischen Inhumanismus, der Menschenformung, der Missionierung, der Erziehung. Ich trage den Diversitätsgedanken ins Kinderzimmer. 

Da geht doch was... Achtung vor der Schweineschnauzensicht. Diese Sicht teile ich nicht, ich sehe eine Steckdose. Aber ich höre hin und schwinge mich ein. Auf den Schwulen, den AfDler, das Kind. Ich werde da nicht mitmachen (beim Männerkuss, beim Vogelschiss, bei der Schweineschnauze), aber ich setze das nicht herab, ich setze den anderen nicht herab, ich setz Dich nicht herab, muss Dich nicht belehren, nicht missionieren. Ich habe nicht mehr recht als Du... Ich wische nicht Deine Würdekrone vom Kopf. Schwule, AfDler, Kinder - ein jeder hat diese Krone. Diversität ist unteilbar.

Montag, 21. Oktober 2024

Nichts bieten lassen





Neben mir im Kino* unterhalten sich zwei Leute. Die Trailer laufen, sie quatschen. Der Film fängt an, sie quatschen. Vor ihnen dreht sich jemand um und bittet um Ruhe. Sie quatschen weiter. Langsam werde ich unruhig und meine Aufmerksamkeit geht vom Film weg zu den beiden hin.

Ich kann sie ignorieren. Dann ist es heute eben ein Film mit Quasseln nebenan. Aber ich muss sie ja auch nicht ignorieren. Dabei verstehe ich sie schon. Sie sind aus anderen Gründen im Kino als ich. Sie treffen sich hier, reden miteinander, der Film ist Kulisse, den kriegen sie nicht mit. Und: sie fühlen sich wohl.

Aber ich mich nicht. Wenn ich sie bitte, mit dem Reden aufzuhören, wird ihr schönes Kino-Rede-Erlebnis in etwas Unangenehmes umschlagen. Wer hat das schon gerne, beim Reden gestört zu werden, erst recht beim trauten Reden im dunklen Kino. Ich merke, dass ich mich immer mehr gestört fühle. Es wird darauf hinauslaufen: sie oder ich, ich oder sie. Einer von uns wird sich gestört fühlen. Ich mich, wenn sie weiterquatschen. Sie sich, wenn ich sie drauf anspreche.

Ich verderbe nicht gerne jemandem sein Wohlfühlen. Das lässt mich zögern. Aber dann reicht es mir: es ist mein Kinoabend, und mein Wohlfühlen hat jetzt nach 15 Minuten Film mit Gequatsche Vorrang. Also stehe ich auf, gehe die drei leeren Plätze neben mir zu ihnen hin und sage, dass mich ihr Reden stört. Es kommt eine abmeiernde Bemerkung, Richtung: Ich soll mich nicht so haben. Hab mich aber. Ich reagiere: Dann hole ich die Security. No reaction.

Soll ich wirklich den Dienst holen? Und ob der es schafft, dass nebenan Ruhe einkehrt? Ok, mach ich. Raus aus dem Film, aus dem Saal. Unten ist nur die Reinigungsfrau. „Ist keiner vom Security mehr da?“ Ich merke, wie mühsam es ist, mir mein Wohlfühlen zu beschaffen. Soll ich es bleiben lassen? Nach Hause gehen? Das Gequassel doch aushalten? Ich spiel das jetzt ganz hoch: Wer ist für mein Wohlfühlen zuständig? Hier im Kino, und überhaupt im Leben? Schon klar, meine Verantwortung. Ich kanns ja auch bleiben lassen, mich jetzt zu kümmern. Ich kann mich aber auch kümmern. Hier im Kino und überhaupt im Leben.

Hier jetzt will ich es durchziehen. „Kein Security mehr da? Das gibt’s doch nicht!“. Doch, sagt sie, er ist hinten. Sie will ihm Bescheid sagen. Sie macht einen verlässlichen Eindruck. Und ich habe mich bemüht, wenigstens, wenn es nicht klappen sollte. „Saal 9“, sage ich, „letzte Reihe“. „Er wird kommen“, sagt sie.

Zurück im Kino, Treppen rauf im Dunkeln, hinsetzen, auf die Leinwand sehen, nichts mitkriegen vor Angespanntsein von der Aktion grade. Nebenan Gequatsche. Na ja, ich beginne, mich dreinzufügen. „Hab mich ja bemüht.“ Finde in den Film zurück. Mit Quatschen nebenan. Es bleibt mühsam.

Dann kommt er, der Security-Mann. Stattliche Erscheinung, Marke Rauswerfer. Ich steh auf uns sag ihm mein Beschwer. „Geht in Ordnung!“, sagt er. Ich fühl mich verstanden und geachtet. Heilung meiner wunden Kinoseele. Ob er was erreicht? Er redet zwei Minuten mit dem Pärchen nebenan. „Sie können jetzt in Ruhe den Film sehen“, sagt er zu mir. „Sie werden nicht mehr gestört.“ Er geht, ich sitze und lausche, ob sich nebenan was tut. Nein, tut sich nichts. Ich komm runter und fang an, den Film zu genießen. Na also!

Ich weiß schon, dass ich den beiden anderen den Abend versaut habe. Das ist ein echt blödes Gefühl. Aber anders gings nicht, heute nicht. Echt nicht? Hätt nicht gewusst wie anders. Im Film werden grad auch die Bösen ausgeschaltet, das Gute siegt. Ich bin der Gute. So soll es sein. Und so ist es ja auch. Aber trotzdem hätt ich es gern anders gehabt. So, dass der Filmgauner seine Beute behält und niemand zu Schaden kommt. So, dass die beiden Kinogauner neben mir ihr Wohlfühlgequassel ausleben können und ich mich nicht gestört gefühlt hätte. Ja: im nächsten Leben... Ich fahr dann zufrieden nach Hause. Der Film war gut, und ich war es auch.

 

* Das alles passierte in einem anderen Film als im letzten Post "Vertrau mir!".


Montag, 14. Oktober 2024

Vertrau mir!

 



Ich war in einem Hollywood-Liebesfilm, "After Passion" heißt er. Es kam, wie es kommen musste: „Vertrau mir!“, sagt er zu ihr. Aber es gelingt nicht. Sie wird vom Sog des Misstrauens eingefangen, er kommt nicht dagegen an. Ich, Zuschauer, weiß, dass sie daneben liegt und dass er nichts angestellt hat – aber sie folgt dem Pfad des Misstrauens. Die Liebe flieht aus ihrem Gesicht, Großaufnahme, Unglauben, Schreck und Flucht prägen jetzt ihr schönes Antlitz. So ist das Drehbuch des Films – und so ist das Drehbuch des Lebens, oft genug, leider.

Wie viel Vertrauen habe ich parat, in Dich, und generell? Wie viel Vertrauen habe ich in das Leben? In das Vertrauen? Glaube ich an Dich? Glaubst Du an mich? Vertrauen – ein gefährlich Ding. Denn es lauert der Abgrund der Enttäuschung. Will ich mich auf so eine wackelige Geschichte einlassen? Ich leide im Film mit: Sie vertraut ihm zu Beginn ein wenig, dann immer mehr, dann Hingabe pur - und dann der Absturz. Geht ja gar nicht. Also lass ich das mal mit dem Vertrauen. Absturz ist schaurig. Ich halte mir lieber ein Hintertürchen offen. Vertrauen? Lieber nicht, nicht wirklich. Bin gewappnet gegen den Absturz.

So weit so gut. Ich bin aber nicht so jemand. Ich fahre den Vertrauenskurs, weil ich davon so viel in mir habe. Und wenn es gelingt, dann falle ich auch in die Hingabe. Und Vertrauen mit reinem Herzen ist einfach schön.

„Vertraust Du mir?“ ist eine schwierige Angelegenheit. Die Frage bedeutet ja, dass etwas Ungewöhnliches im Busch ist. Was aber das Band der Liebenden nicht zerreißen soll. Wiewohl offenkundig Unmögliches passiert. Mit dem „Vertraust Du mir?“ wird eine Magie wachgerufen, zwischen zwei Menschen. Auf dass das Unmögliche (Schlimme) nicht passiert oder das Unmögliche (Schöne) erst recht passiert. Und wenn ich dann antworte „Ja, ich vertrau Dir“ – das ist echte Zauberei.

Ich kann mein Vertrauen auch zurücknehmen, dem anderen das Vertrauen entziehen. Klar, das geht. Aber dann muss schon Gruseliges passiert sein. Ich bin nicht der Angestellte oder gar Sklave des Vertrauens. Ich behalte das in der Hand, gehöre wie immer mir selbst. Wenn es nicht mehr stimmig ist, dann wird das Vertrauen dünner und kann ganz gehen. Es liegt an mir. Wie immer.

Im Film geht es der Frau so. Sie vertraut nicht mehr. Sie hört ihren Partner nicht mehr, fühlt sein Herz nicht mehr. Sie folgt Bildern und Botschaften, die aus dem Misstrauensland kommen. Und sie leidet schrecklich: weil er sie verraten hat, wie sie meint (und was nicht stimmt, wie ich Zuschauer weiß). Wenn das Vertrauen sich aufzulösen beginnt – da kann man ja doch noch einmal einen Versuch machen! Aber wie lässt sich der Misstrauensgeist wieder in die Flache stopfen, wenn er in uns herumgeistert? Das haben wir nicht mehr in der Hand, das Ding hat uns in der Hand. Da sind Mächte am Werk, denen auch sie nicht gewachsen ist. Die über sie herfallen und sie bestimmen. Drehbuch, klar, aber im Leben geht es auch so. Liegt doch alles an/bei mir? Schnickschnack!

Diese Mächte der Finsternis, die mein Vertrauen in Dich stören und zerstören: Was soll das? Wer denkt sich so etwas aus? Keine Ahnung. Was machen? Auch keine Ahnung. Wie geht es weiter? Schon klar: ohne Dich eben, ohne uns eben. Was bedeutet? Nichts Gutes, Leid und Schmerz. Aussichten? „Die Zeit heilt alle Wunden“. So soll es sein, und so ist es ja auch.

Aber es kommt auch vor, dass die dunklen Kein-Vertrauen-Wolken unversehens von einem Lichtstrahl der Erinnerung durchbrochen werden. Wie war das noch mit dem Vertrauen, damals? Mit uns beiden? „Bis ans Ende aller Zeiten...“ Liebe ist eine so starke Macht. Und zum Schluss des Films geraten die beiden wieder in ihre Magie, er geht auf sie zu und sie lässt ihn das tun. Ihr Vertrauen kommt zurück. Ihr Antlitz wird wieder so schön. Aufgewühlt und glücksberührt fahre ich nach Hause.

 

Montag, 7. Oktober 2024

Das pädagogische Tabu

 


 

Wie kommt es, dass wir uns die Frage nach der Selbstverantwortung des Kindes nicht stellen? Die einfachste Antwort darauf ist, dass es eben eine völlig sinnlose Frage ist. Denn da Kinder nicht Verantwortung für sich übernehmen können, braucht man auch nicht danach zu fragen. Ja, eine Frage danach wäre ein unsinniger Gedanke, so, wie wenn man etwas sieht, das gar nicht existiert.

Diese Antwort wird uns von dem traditionellen Umgang mit Kindern gegeben und von der zugehörigen Wissenschaft, der Pädagogik. Es ist so, dass sich diese Lehre vom Umgang mit Kindern auf Sätzen wie diesen aufbaut: „Kinder können nicht wissen, was für sie gut ist.“ „Kinder können keine Verantwortung für sich übernehmen.“ „Erwachsene tragen für Kinder die Verantwortung.“ Man schiebt dann ein „noch“ ein: Die Kinder können es noch nicht. Erst, wenn sie gelernt haben, selbstverantwortlich zu sein, erst wenn sie reif genug und erwachsen sind, werden sie selbstverantwortliche Menschen sein können.

Die traditionelle Haltung ist von einem Tabu geprägt: „Erkenne nicht die Fähigkeit des jungen Menschen, Verantwortung für sich übernehmen zu können.“ Es ist wie mit einem Bann belegt, dies zu bemerken und darüber nachzudenken. Wie entstand das pädagogische Tabu? Wie konnte es geschehen, dass den Erwachsenen die Selbstverantwortungsfähigkeit des jungen Menschen in Vergessenheit geriet?

Nun, der Umgang mit Kindern ist tief in einer Haltung verwurzelt, in der Menschen sich berechtigt fühlen, über andere Menschen Herrschaft auszuüben. Die Position, die Kindern die eigene Verantwortung abspricht und stattdessen Erwachsenen die Verantwortung zuspricht kommt aus dieser Herrschaftstradition, aus dem jahrtausendealten Patriarchat.

Wenn man andere unterwerfen will, dann ist es die sicherste Methode, wenn diese selbst daran glauben, dass es für sie richtig ist, beherrscht zu werden. Und genau so wird mit uns verfahren. Als Kinder bekommen wir unser ganzes Kinderleben lang gezeigt, dass es unumgänglich ist, wenn andere – Erwachsene – uns führen, über uns bestimmen, sich für uns verantwortlich fühlen, uns die Verantwortung abnehmen. „Zu unserem eigenen Besten.“

Das pädagogische Tabu wird von den Erwachsenen nicht gespürt, die ein erzieherisches Selbstverständnis und einen pädagogischen Anspruch haben. Sie sind erfüllt von dem „Ich weiß, was für Kinder gut ist“, sie fühlen sich für die Kinder verantwortlich und bestimmen über sie „zu ihrem Besten“. Sie verstehen deswegen zunächst nicht, wovon die Rede ist, wenn man die Selbstverantwortung des Kindes ins Gespräch bringt.

Es gibt dann entrüstete Proteste. Wie stets, wenn man an ein Tabu rührt. „Sie wollen damit doch nur provozieren, auf Kosten der Kinder.“ Diese Erwachsenen haben ihr Zusammenleben mit Kindern an diesem Tabu ausgerichtet, und sie fühlen sich tatsächlich verantwortlich für Kinder. Lassen sie sich dennoch gewinnen? Gewinnen womit? Enttabuisierung ist ein schmerzlicher Prozess. Man muss ja etwas aufgeben, was bisher unverrückbar zum Selbstverständnis und Weltbild gehört. Es stürzt etwas ein – wie wird das Neue sein? Es muss eine sinnvolle und befriedigende Alternative geben.